Der Junge, der Träume schenkte
ihrem Bett hinüberblickte. Sie verabscheute es. Und dieses Gefühl beängstigte sie. Seit beinahe zwei Jahren hatte sie nichts mehr verabscheut. Am meisten jedoch beunruhigte sie, dass sie nicht wusste, warum sie einen immer größeren Abscheu gegen das Kleid empfand, das sich über ihr Bett ergoss wie ein roter Fleck.
Krack .
Acht Schwestern, dachte sie, um sich von dem Geräusch abzulenken, das in ihren Ohren widerhallte. Und du bist die neunte, sagte sie zu sich selbst. Neun. Neun wie die Anzahl ihrer Finger. Ich denke an nichts!, befahl sie sich mit Nachdruck und schloss die Augen. Ich denke an nichts! Ich höre nichts!
Doch selbst in der Dunkelheit hinter ihren Lidern tauchte das rubinrote Kleid auf, das sich über ihr Bett ergoss wie eine Blutlache.
Krack . Leise. Als träte jemand auf trockenes Laub. Krack . Lauter. Als knickte jemand einen Zweig ab. Krack . Noch lauter. Als schnitte jemand mit der Schere einen Finger ab.
Ohrenbetäubend.
Ruth sah zu, wie sie schlemmten und den Champagner in sich hineinschütteten, den ihr Vater hatte auffahren lassen. Wie Heuschrecken sehen sie aus, ging es ihr durch den Kopf. Tote Heuschrecken, die vollgefressen noch mit den Beinen zuckten. Vielleicht aber, dachte sie, ohne den Blick von den lärmenden Gästen abzuwenden, bin ich es, die tot ist. Mit offenen Augen.
Sie war wunderschön. Das wusste sie. Sie hatte sich im Spiegel betrachtet. Sie war wunderschön. So wie Bill sie gesehen hatte. Großzügig hatte sie ihre Lippen mit Lippenstift nachgezogen, nicht mit der zarten Nummer sieben, die ihre Mutter bereitgelegt hatte, sondern mit der kräftigen Nummer elf. Und sie hatte ihn auch auf die Augenlider aufgetragen. Scharlachrot. Mit scharlachrot umrandeten, weit aufgerissenen Augen beobachtete sie nun die Heuschrecken.
Ruth lachte. Sie stieg die erste Stufe hinab und geriet ins Taumeln.
Sie erschauerte in ihrem neuen schulter- und rückenfreien rubinroten Abendkleid aus Seide.
»Rot wie das Blut, das zwischen meinen Beinen klebt, nicht wahr, Bill?«, sagte sie leise und lachte. »Rot wie das Blut, das mir immer weiter aus dem Finger spritzt, den du mir abgeschnitten hast, nicht wahr, Bill?« Und sie hörte nicht auf zu lachen, so komisch war das alles. So komisch, dass sie es auch den Heuschrecken erzählen musste. Die rote Ruth.
Sie nahm eine weitere Stufe und stützte sich dabei auf den Handlauf. »Deine Pillen sind gut, Mama ...«, murmelte sie, wacklig auf den Beinen. Doch noch immer nahm niemand sie wahr. Die Heuschrecken aßen und aßen. Und sie lachten. »Auch dein Schmuggelwhisky ist gut, Mama ...«, sagte Ruth, während sie die nächste Stufe hinabstieg. Sie würde all diese Leute noch mehr zum Lachen bringen. Über das Blut. »Rot wie das rote Herz, nicht wahr, Christmas? Rot wie der Kuss, den ich dir nie gegeben habe, nicht wahr, Christmas?« Eine weitere Stufe. »Ich bin die Blutpriesterin«, kicherte sie. »Deshalb hat meine Mutter mir dieses Kleid aus Blut geschenkt ...« Noch zwei Stufen. In ihrem Inneren aber drehte sich alles. Die Decke löste sich von den Wänden, die Wände vom Fußboden. Und der Boden unter ihren Füßen schwankte hin und her wie ein Schiffsdeck bei Sturm. »Ja, ich treibe mitten im Blutsee ... und ertrinke. Ich ertrinke und ... Lustig, nicht? Lustig zu sehen, wie jemand im Blut ertrinkt ... weil ... weil es eben lustig ist.« Sie stieg weitere drei Stufen hinunter, obwohl ihre Knie nachzugeben drohten. Ruth klammerte sich noch fester an den Handlauf und zog die Schuhe aus. »Rote Schuhe«, sagte sie kichernd und ließ sie zu Boden fallen. Als sie wieder aufblickte, entdeckte sie den Vater in seinem makellos weißen Leinenanzug. Sein Gesicht war bleich und angespannt. »Du hast kein Blut in dir, Papa ...«, lallte sie. »Dein ganzes Blut ... habe ich vergossen ...« Sie lachte und betrachtete den Fingerstumpf an ihrer Hand. »Die Handschuhe habe ich nicht angezogen ... tut mir leid, Mama ... Ich wollte sie nicht mit Blut besudeln ...«, sagte sie, noch immer lachend, während sie mit der Hand vor ihren Augen herumfuchtelte und nur verschwommen den verstümmelten Finger wahrnahm, den sie rubinrot angemalt hatte. Mit dem Lippenstift, den sie auch für Lippen und Augen benutzt hatte. Erneut betrachtete sie ihren Vater, der besorgt unter den Gästen Ausschau hielt. »Sie sind nicht gekommen, stimmt’s, Papa?« Ihr wurde übel. Sie schlug die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Ihre Stirn war eiskalt und mit Schweißperlen
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