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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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gelaunt ging Bill zu Bett. Es war bereits Nacht, und er lag noch immer wach, als er ein Schluchzen hörte. Er stand auf und presste das Ohr an die Wand. Und da hörte er Linda leise weinen. Sein Penis richtete sich auf.
    Als Linda am Tag darauf das Haus verlassen hatte, bohrte Bill ein Loch in die Wand zwischen den beiden Wohnzimmern. Nach der Arbeit kehrte er eilig ins Palermo zurück. Bill spähte durch das Loch und stellte fest, dass Linda bereits zu Hause war und aß. Heiter gestimmt bereitete auch er sich etwas zu essen zu und wartete, bis er Lindas Schlafsofa quietschen hörte.
    Kaum begann sie zu schluchzen, stellte er sich vor das Guckloch und lugte ins Dunkle. Schemenhaft konnte er das Mädchen in Fötushaltung unter der Bettdecke liegen sehen. Ihre Schultern zuckten kaum wahrnehmbar. Da schob Bill eine Hand in seinen Pyjama und begann, sich langsam zu streicheln. Und als er den Höhepunkt erreichte, flüsterte er leise Lindas Namen.
    Da erst kostete er, genährt durch ihren Kummer, ein wenig von dem Glück, von dem er drei Jahre zuvor geglaubt hatte, es läge in Kalifornien auf der Straße.

37
    Los Angeles, 1926
    »Mit deinen fürchterlichen Haaren muss etwas geschehen. Du bist kein kleines Mädchen mehr, du bist jetzt eine Frau, vergiss das nicht«, hatte ihre Mutter an jenem Morgen verkündet. »Ich gehe mit dir zu meinem Friseur.«
    »Ja, Mama«, antwortete Ruth, die in ihrem Zimmer am Fenster saß, das zum Swimmingpool der Villa in Holmby Hills hinauszeigte.
    »Ich möchte, dass du perfekt aussiehst.«
    »Ja, Mama«, erwiderte Ruth mit ausdrucksloser Stimme, ohne den Blick von den acht Statuen im klassizistischen Stil abzuwenden, die um den Swimmingpool herum aufgestellt waren. Drei an jeder Längsseite und je eine in der Mitte der kurzen, abgerundeten Seiten.
    »Und zwing dich, heute Abend zu lächeln«, fuhr die Mutter fort. »Du weißt, wie wichtig der Abend für deinen Vater ist.«
    »Ja, Mama«, antwortete Ruth ein drittes Mal, ohne sich zu regen.
    Da packte die Mutter sie am Arm. »Worauf wartest du?«
    Ohne ein weiteres Wort stand Ruth auf und folgte ihr aus dem Zimmer die breite Treppe der Villa hinunter und zum imposanten Eingangsportal aus italienischem Marmor hinaus, bevor sie schließlich in den neuen Hispano-Suiza H6C einstieg, der den H6B aus New Yorker Zeiten ersetzt hatte.
    Beim Friseur nahm sie auf einem Stuhl in einer abgetrennten Kabine Platz und ließ sich teilnahmslos von einem blondierten Mädchen einen Umhang umlegen, während ihre Mutter und Auguste – der Friseur mit dem französischen Namen – berieten, was mit ihren Haaren zu tun sei.
    Schließlich schaute Auguste Ruth im Spiegel an. »Du wirst wunderschön aussehen heute Abend«, versicherte er ihr.
    Sie gab keine Antwort.
    Ein wenig ungehalten wandte Auguste sich wieder der Mutter zu. »Welche Farbe für die Nägel, Madame?«
    Sarah Isaacsons Blick fiel auf Ruths Fingerstumpf. »Sie wird Handschuhe tragen«, entgegnete sie eisig. Dann ging sie hinaus.
    Ruth saß reglos da, als nähme sie nichts von dem wahr, was um sie herum geschah. Wenn sie gebeten wurde, den Kopf zu heben, hob sie ihn, und wenn sie gebeten wurde, zur Seite zu rücken, rückte sie zur Seite. Als sie gefragt wurde, ob das Wasser zu kühl sei, verneinte sie, und ebenso abwesend verneinte sie, als sie gefragt wurde, ob es zu heiß sei. Sie war da und zugleich nicht da. Und es war ihr völlig gleichgültig. Sie hörte niemanden, nahm nichts um sich herum wahr.
    Seit annähernd drei Jahren nämlich gelang es Ruth, die Außenwelt auszusperren.
    Es war, als säße sie wieder in dem Zug, der sie aus New York fortbrachte. Gleich nach ihrer Ankunft in Los Angeles hatte sie begonnen, auf einen Brief von Christmas zu warten. All ihre Aufmerksamkeit, all ihre Gedanken und Gefühle hatte sie auf ihr vergangenes Leben gelenkt und die Hoffnung genährt, Christmas, der Kobold aus der Lower East Side, werde weiterhin ihre Gegenwart und Zukunft sein. Christmas aber war verschwunden. Kaum im Beverly Hills Hotel angekommen, hatte Ruth ihm an die Adresse Monroe Street Nummer 320 geschrieben und keine Antwort erhalten. Sie hatte ihm geschrieben, nachdem sie die Villa in Holmby Hills bezogen hatten. Und wieder war die Antwort ausgeblieben. Doch Ruth hatte gewartet. Christmas wird mich nie enttäuschen, versicherte sie sich wieder und wieder. Doch die Überzeugung schwand mit jedem Tag ein wenig mehr. Bis Ruth eines Morgens nach dem Aufwachen das scheußliche rote Lackherz ganz

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