Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
hinten in eine Schublade verbannt hatte.
    Und in dem Moment, als sie die Lade geschlossen hatte, hatte sie in ihrem Kopf ein krack gehört, ganz leise nur und doch deutlich.
    Dennoch hatte sie gewartet. Ohne noch länger zu hoffen. Und mit dem Verlust der Hoffnung war in ihrem Kopf reichlich Platz für Gedanken entstanden, die die Sehnsucht nach Christmas für lange Zeit hatten verscheuchen können. Als Ruth erkannte, dass sie darauf wartete, Bill möge aus ihren Albträumen verschwinden, war es zu spät. Und als sie erkannte, dass sie darauf wartete, die Wunde, die Opa Sauls Tod hinterlassen hatte, möge sich schließen, war es zu spät. Schlagartig hatte sich das Warten in Angst verwandelt. Ruth verfügte jedoch über keinerlei Waffen, mit denen sie sich gegen die wachsende Angst hätte verteidigen können. Auf einmal kam es vor, dass sie außer Atem war, als wäre sie schnell gerannt, obwohl sie in dem exklusiven College, das sie besuchte, still in ihrer Schulbank saß. Oder ihr fiel auf, dass ihre Augen weit aufgerissen waren, als starrte sie auf etwas Grauenvolles, obwohl sie nur auf die Tafel blickte, auf der ein Lehrer gerade mit Kreide die Unterrichtsinhalte festhielt. Oder aber es kam ihr vor, als zerplatzten ihre Trommelfelle bei einer schrecklichen Detonation, obwohl es nur die Stimme eines Klassenkameraden war, der sie zu einem Fest einlud. Denn es war, als bestünde die ganze Welt neuerdings aus Farben, Geschmacksnuancen, Gerüchen und Lauten, die schlichtweg zu stark für sie waren.
    Sie hatte sich eine dunkle Brille aufgesetzt. Die Farben jedoch waren in ihrem Kopf. Nachts hielt sie sich die Ohren mit dem Kissen zu, doch die Schreie kamen aus ihrem Herzen. Sie aß kaum noch etwas, aber der Geschmack, der wie Gift in ihrem Mund brannte, kam tief aus ihrem Inneren. Sie versuchte, nichts und niemanden zu berühren, doch kam es ihr vor, als erzählte der Finger, den ihr Bill abgetrennt hatte, ihr dennoch von der Kälte und dem Höllenfeuer der Welt.
    Und beinahe ein Jahr nach ihrer Abreise, an einem Tag, an dem sie unter all der Last, die ihr auf der Seele lag, zu ersticken glaubte, an einem Tag, an dem sie sicher war, es nicht mehr auszuhalten, und mit dem Gedanken spielte, sich vor einen heranbrausenden Pierce-Arrow zu werfen, an dem Tag schließlich hörte sie erneut das krack in ihrem Kopf.
    Lauter nun. Deutlicher.
    Und als das Echo des Geräusches hinter ihrer Stirn verhallte, war alles ringsum, Farben und Laute und Gerüche, verblasst. Alles war grau geworden. Still und reglos. Die Meereswellen waren verstummt, ebenso die Möwen am Himmel. Bills Lachen hörte sie nicht mehr. Und ebenso wenig die Stimme des Großvaters.
    Endlich sind sie alle tot, hatte sie seltsam apathisch gedacht.
    Zu der Zeit erst entdeckte sie ihre »acht Schwestern«, obgleich sie schon immer dort gestanden hatten.
    Und nun hatte Ruth in den zwei Stunden, die Auguste, der Friseur, bereits mit ihren Haaren beschäftigt war, noch nicht ein Mal in den Spiegel geschaut. Sie schaute sich auch dann nicht an, als die Mutter – die mit einer riesigen Tüte aus einem der exklusivsten Geschäfte in ganz Los Angeles zurückkam – Auguste für sein Frisurenwerk lobte und mit einem Scheck über eine astronomisch hohe Summe belohnte.
    »Versuch, die Frisur bis heute Abend nicht zu ruinieren«, sagte die Mutter, als Ruth ins Auto einstieg.
    »Ist gut«, entgegnete sie und sprach bis Holmby Hills kein Wort mehr. Sie stieg aus dem Wagen, kehrte zurück in ihr Zimmer, setzte sich ans Fenster und starrte wieder hinaus auf die klassizistischen Statuen rund um den Swimmingpool, ihre »acht Schwestern«. Acht Schwestern ohne Seele und Gefühle, kalt und stumm. Ruth fröstelte. Aber sie stand nicht auf, um sich einen Pullover überzuziehen. Es lohnte nicht. Wie bei ihren acht Schwestern kam die Kälte von innen. Und kein Kaschmir konnte Ruth wärmen.
    Zum Glück war da diese Apathie, die ihr ein wenig Schutz bot, die einen schweren, düsteren, schwarzen Schlaf ohne Träume und Gedanken mit sich brachte. Still und undurchlässig, dem Tode gleich. Einen Schlaf, unterbrochen von kurzen Wachphasen, denen man sich leicht widersetzen konnte, die nur einen schwachen Unmut hervorriefen. Ein Schweregefühl im Kopf, eine Trägheit, eine Zerschlagenheit, die schon bald den Verlockungen eines neuen Schlafes, eines neuen Abtauchens wichen. So konnte Ruth erneut abtauchen. Ohne dass jemand sie fand. Die Lethargie, der sie sich hingegeben hatte, begleitete sie in

Weitere Kostenlose Bücher