Der Junge, der Träume schenkte
zu.
Der Vater saß mit eingezogenen Schultern da und ließ den Kopf hängen. Dann sah er zu seiner Tochter auf. »Versuch, schnell gesund zu werden, Schatz«, sagte er. Und seine Stimme klang wieder liebevoll. »Ich weiß nicht, wie lange ich das hier noch bezahlen kann.« Sein Kopf sank erneut hinab. Er streckte eine Hand aus und streichelte seiner Tochter sanft über das Bein.
Ruth betrachtete seine Finger. Die Knöchel wurden langsam knotig, wie die des Großvaters. Und auf dem Handrücken zeigten sich die ersten Altersflecken. Ebenfalls wie beim Großvater.
»Es tut mir leid ...«, sagte der Vater, dann stand er auf und ging zum Auto.
Ruth hörte die Wagentüren zuschlagen. Der Motor sprang an, und der Kies knirschte unter den Reifen. Ohne den Kopf zu heben, saß Ruth da, den Blick starr auf die Berührung gerichtet, die sie noch immer warm auf ihrem Bein spürte.
Und auf einmal, ohne zu wissen, warum, nahm sie die Kamera zur Hand und beobachtete durch den Sucher das Auto, das ihre Eltern forttrug. Dann drückte sie auf den Auslöser.
Ihr erstes Foto.
Als sie es entwickeln ließ, sah sie Wagen und Toreinfahrt in Schwarz-Weiß. Schwarz-Weiß war auch das Schild mit der Aufschrift Newhall Spirit Resort for Women , der Nervenheilanstalt, in der sie eingesperrt war.
Ruth spürte, dass sie ein kleines bisschen Frieden gefunden hatte.
Mrs. Bailey war um die sechzig Jahre alt und lebte seit über zehn Jahren im Newhall Spirit Resort for Women. Die meiste Zeit saß sie in einer Ecke des Aufenthaltsraumes, der nur den als »nicht störend« eingestuften Patientinnen vorbehalten war. Die anderen, die Störenfriede, wurden in Gummizellen eingesperrt, und man bekam sie fast nie zu Gesicht. Nicht störend waren Patientinnen wie Mrs. Bailey und Ruth, die positiv auf ihre »Arzneibehandlung« ansprachen, die in Wahrheit darin bestand, dass man ihnen Narkosemittel verabreichte, die eine beruhigende Wirkung erzielen sollten. Unbequem waren die Patientinnen, die wegen Alkoholismus, Drogensucht oder Schizophrenie eingewiesen worden waren und eine Gefahr für sich selbst und andere darstellten. Sie wurden häufig eiskalt gebadet und in Zellen gesperrt, in denen sie möglichst wenig Schaden anrichten konnten. Was nicht hieß, dass die kräftigen Pfleger sie nicht mit Zustimmung der Ärzte schlugen und misshandelten. Neben dem Zwangsentzug war in Wirklichkeit nämlich Gewalt die einzige Therapie, die hier praktiziert wurde. Der Unterschied zwischen dem Newhall Spirit Resort for Women und den psychiatrischen Kliniken, in denen die Kranken aus weniger wohlhabenden Schichten vergessen wurden, bestand allein in der Qualität des Essens, der Bettdecken, Matratzen, Laken, in der äußeren Fassade – der Einrichtung also, die den Familien, die sich ihrer Angehörigen entledigten, die Schuldgefühle nehmen sollte. Den bedeutendsten Unterschied aber machte natürlich der Betrag aus, der für die Behandlung aufgebracht werden musste.
Ruth – die zunächst leichthin als selbstmordgefährdet eingestuft und für eine kurze Beobachtungszeit isoliert worden war – hatte, nachdem die Ärzte sich davon überzeugt hatten, dass sie nicht zu den Störenden gehörte und von ihr keine Gefahr für andere ausging, ein Doppelzimmer zugewiesen bekommen. Im anderen Bett schlief Mrs. Bailey, bei der man eine schizophrene Störung diagnostiziert hatte, die zwischen Hebephrenie und Katatonie schwankte. Es überwogen die Symptome von gedanklicher Dissoziation, die die Hebephrenie mit sich brachte, hinzu kamen Willensstörungen und unkontrolliertes Verhalten, ausgelöst durch die Katatonie. Anfangs hatten Mrs. Bailey und ihr düsteres Schweigen Ruth Angst gemacht.
Gleich am ersten Tag ihres Zusammenlebens war ihr aufgefallen, dass Mrs. Bailey keine Schuhe ertragen konnte. Sie zog sie aus, sobald sie nur konnte. Und wenn sie barfuß war, schlug sie die großen Zehen über den jeweils angrenzenden Zeh. In dem Moment entspannten sich die Gesichtszüge der Frau und nahmen einen Ausdruck zerstreuter Heiterkeit an.
»Jeder muss sein eigenes Gleichgewicht finden«, sagte Mrs. Bailey, nachdem sie eine Woche stumm miteinander verbracht hatten, unvermittelt, als hätte sie Ruths Blick gespürt, und starrte dabei weiter beharrlich geradeaus auf einen unbestimmten Punkt.
Mrs. Bailey war die erste Patientin, die Ruth mit ihrer Leica fotografierte. »Darf ich ein Foto von Ihnen machen?«, fragte sie an jenem Tag.
»Die Hühner bitten nicht um Erlaubnis, Eier
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