Der Junge, der Träume schenkte
legen zu dürfen«, entgegnete die Frau.
»Wie bitte?«
»Und der Fuchs bittet nicht um Erlaubnis, sie ihnen wegfressen zu dürfen.«
»Also darf ich ein Foto von Ihnen machen?«
»Und der Bauer bittet den Fuchs nicht um Erlaubnis, eine Falle aufstellen zu dürfen.«
Ruth hob die Leica ans Auge und richtete sie auf Mrs. Baileys Profil.
»Darum bin ich hier«, sagte die Frau, ohne den Blick von dem Punkt abzuwenden, den sie unablässig anstarrte. »Wegen der Falle ...« Und eine Träne rann ihr über die runzlige Wange.
Ruth drückte auf den Auslöser und spulte den Film weiter.
Mrs. Bailey wandte den Kopf und sah sie an.
Erneut drückte Ruth auf den Auslöser. Als sie die entwickelten Bilder in Händen hielt, blickten ihr vom Papier Mrs. Baileys wundervoll dramatische blaue Augen entgegen, genau wie an dem Tag, an dem sie sie fotografiert hatte. Doch sie machten ihr keine Angst mehr. Ruth verbrachte viel Zeit damit, diese blauen Augen zu studieren, und glaubte bald zu verstehen, wer Mrs. Bailey war. Sie durch das Objektiv zu betrachten erhöhte und verringerte zugleich die Distanz. Es erlaubte Ruth zu forschen, ohne selbst erforscht zu werden. Sie hatte das Gefühl zu betrachten, aber nicht gesehen zu werden. Als wäre ihre Leica eine Rüstung, ein Paravent, ein Versteck. Als wirkte der Film vermittelnd auf ihre Gefühle, als vereinfachte er auch sie zu einem Schwarz-Weiß-Abzug, als machte er sie erträglich, annehmbar.
Nach Mrs. Bailey war die junge Esther an der Reihe, die immer, wenn die Leica auf sie gerichtet war, die Hand an ihren schmalen Mund führte und ängstlich an den Nägeln kaute, um gleich darauf zu fragen: »Kannst du von meiner Mutter auch ein Foto machen?«, obwohl ihre Mutter, wie Ruth herausgefunden hatte, bei ihrer Geburt gestorben war. Dann war da noch Mrs. Lavander, die sich nur mit geschlossenen Augen fotografieren ließ. Und Estelle Rochester, die sich stets Sorgen wegen des Hintergrundes machte, denn sie wollte nicht, dass ihr Mann womöglich hinter ihr einen Riss in der Wand entdeckte, da Mauern ihm als Bauunternehmer wichtig waren. Oder Charlene Summerset Villebone, die weder Ruth noch irgendwen sonst wahrnahm. Oder Daisy Thalberg, die Ruth bat, laut bis drei zu zählen, bevor sie auf den Auslöser drückte, weil es ihr unerträglich war, nicht zu wissen, wann es so weit war, und weil sie vor lauter Aufregung den Atem anhielt, bis der Fotoapparat klick machte.
»Mach auch ein Foto von mir«, bat ein junger Arzt Ruth einige Zeit später.
»Nein«, gab sie zur Antwort.
»Warum nicht?«
»Weil Sie lächeln.«
Ruths bevorzugtes Motiv aber war noch immer Mrs. Bailey.
Mehr als fünfzig Fotos hatte sie in den drei Wochen, die sie zusammenlebten, von der älteren Dame aufgenommen. Sie bewahrte sie alle, getrennt von den Fotos der anderen Bewohnerinnen des Newhall Spirit Resort for Women, in ihrer Nachttischschublade auf. Vielleicht weil Mrs. Bailey ihre Zimmergenossin war. Vielleicht weil sie ihr sympathischer war als die anderen. Vielleicht weil etwas in ihrem Blick sie an sich selbst erinnerte. Vielleicht weil sie die Einzige war, der sie – am Abend, wenn die Pfleger sie im Zimmer einschlossen – von sich und Bill und Christmas erzählte, auch wenn Mrs. Bailey weder jemals etwas erwiderte noch erkennen ließ, dass sie ihr zuhörte.
»Zeig sie ihm«, sagte Mrs. Bailey eines Tages zu ihr.
Das war an einem Sonntag. Und es war der erste Sonntag, an dem Ruths Eltern nicht zu Besuch kommen würden. Der Vater hatte ihr ein Telegramm geschickt. Sie hatten einen Termin mit einem möglichen Käufer der Villa in Holmby Hills.
»Wem soll ich sie zeigen?«, fragte Ruth mechanisch, ohne Neugier, da sie daran gewöhnt war, dass die Frau hin und wieder mit Sätzen ohne jeden Zusammenhang ihr Schweigen brach.
In dem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und ins Zimmer trat ein kleiner, rundlicher Mann um die siebzig mit einer dicken Nase, dichten weißen Augenbrauen und zwei winzigen hellen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und gescheit dreinblickten.
»Clarence«, sagte Mrs. Bailey, »sieh dir Ruths Fotos an.«
Ein freudiges Strahlen erhellte das Gesicht des Mannes. »Wie fühlst du dich, Liebes? Schön, dich sprechen zu hören«, sagte er überschwänglich, während er sich seiner Frau näherte und sie zärtlich auf den Kopf küsste. »Ich liebe dich«, flüsterte er.
Mrs. Bailey aber hatte sich schon wieder in ihre eigene Welt zurückgezogen und blickte aufs Neue starr geradeaus
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