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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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auf irgendeinen Punkt.
    »Liebes ...«, sagte der Mann. »Liebes ...« Unversehens erstarb das Lächeln auf seinen Lippen. Behutsam, fast lautlos nahm er sich einen Stuhl und stellte ihn neben den seiner Frau. Er setzte sich, ergriff die Hand seiner Frau und streichelte sie sanft, ohne zu sprechen.
    Eine Stunde lang saß er so da, dann stand er auf, küsste seine Frau erneut auf den Kopf und flüsterte ihr noch einmal zu: »Ich liebe dich.« Schließlich ging er schwerfällig hinaus und zog leise die Tür hinter sich zu, ohne Ruth auch nur ein einziges Mal angesehen zu haben.
    »Woher wussten Sie, dass Ihr Mann vor der Tür stand?«, wollte Ruth wissen, kaum dass sie allein waren.
    Mrs. Bailey gab keine Antwort.
    Eine Woche später sagte sie zu Ruth: »Weil ich ihn immer gehört habe. Ich habe ihn sogar schon gehört, bevor ich ihn kannte.«
    Es war wieder Sonntag, und Ruths Vater hatte in einem weiteren Telegramm angekündigt, dass er und seine Frau auch an diesem Tag nicht zu Besuch kommen würden. Wie den Sonntag zuvor war Ruth nicht in den Hof hinuntergegangen, sondern mit Mrs. Bailey im Zimmer geblieben.
    »Wen haben Sie gehört?«, fragte Ruth.
    Da betrat Clarence Bailey das Zimmer.
    »Sieh dir Ruths Fotos an«, sagte Mrs. Bailey.
    Und zum ersten Mal, seitdem der Mann seine Frau besuchte, wandte er den Blick von ihr ab und sah hinüber zu Ruth.
    »Hilf ihr, Clarence«, sagte Mrs. Bailey.
    Als Ruth nach einem viermonatigen Aufenthalt im Newhall Spirit Resort for Women auf dem Weg nach Hause war, fühlte sie sich unbehaglich und freudig erregt zugleich. Ihre Eltern saßen vorn, der Vater am Steuer, daneben die Mutter, den Blick aus dem Seitenfenster gerichtet und scheinbar in die Betrachtung der Landschaft vertieft. Ruth belegte die Rückbank. Anders als sie es von den Autos der Familie seit jeher gewohnt war, roch der Wagen nicht sauber und nach Leder. Auch war er nicht luxuriös ausgestattet wie die anderen Autos, in denen Ruth seit ihrer Kindheit herumkutschiert worden war. Aber Ruth war das egal. Der Wagen stand für ihr allererstes Foto. Und vor ihr saß ihr Vater, der Mann, der ihr die Leica geschenkt hatte, der Mann, der sanft zu ihr gesprochen hatte mit einer Stimme, die sie an Opa Saul erinnert hatte, der Mann, der ihr Bein gestreichelt hatte und sich ihrer annehmen würde. Ihr Vater. Ihr neuer Vater. Dieser Gedanke nämlich ging Ruth seit dem Besuch, der ihr Leben in der Klinik verändert hatte, tagtäglich durch den Kopf. Sie hatte einen neuen Vater, einen, der sie in den Arm nehmen, wärmen und beschützen würde.
    »Mach dich auf etwas gefasst«, brach die Mutter plötzlich das Schweigen und wandte sich zu ihrer Tochter um. »Zu Hause hat sich viel verändert.« Für einen Moment schaute sie wieder aus dem Fenster. »Und das verdanken wir deinem Vater ...«
    »Sarah, fang nicht wieder damit an«, warf er matt ein, ohne den Blick von der Straße zu lösen.
    »... und seinem untrüglichen Geschäftssinn«, fuhr Sarah Isaacson jedoch unbeirrt fort.
    »Sie hat gerade erst diesen Ort verlassen ...«
    »Die Klapsmühle für Reiche«, bemerkte Mrs. Isaacson kalt und drehte sich wieder zu ihrer Tochter um.
    Ruth senkte den Blick und presste den Stapel Fotografien, den sie in der Hand hielt, an sich.
    »Und sie soll wissen, dass wir nicht mehr reich sind – dank dir ...«
    »Sarah ... bitte.«
    »Sieh mir in die Augen, Ruth«, sprach die Mutter weiter.
    Ruth blickte auf. Am liebsten hätte sie sich hinter ihrer Leica versteckt.
    »Sollte dir das wieder passieren«, erklärte Mrs. Isaacson und sah sie fest an, »können wir uns nicht mehr erlauben, dich an diesem ›Ort‹, wie dein Vater sagt, unterzubringen ...«
    Am liebsten hätte Ruth ihre Leica vors Gesicht gezogen. Mama werde ich niemals fotografieren, dachte sie.
    »Sarah, es reicht jetzt!«, schrie Mr. Isaacson und schlug mit der Faust aufs Lenkrad.
    In seinem Schrei liegt keine Kraft, dachte Ruth. Von Opa Sauls Stärke ist in Papas Stimme nichts mehr zu hören.
    »Ich will, dass deine Tochter ... wenigstens sie«, hob die Mutter mit einem eisigen, abfälligen Lächeln in Richtung des Vaters erneut an, »den Mut aufbringt, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«
    »Hör nicht auf sie, Ruth«, warf Philip Isaacson ein und suchte im Rückspiegel den Blick seiner Tochter. Ruth entdeckte in den Augen des Vaters die altbekannte Schwäche, kein helles Funkeln wie bei Opa Saul. »Hör nicht auf sie, Schatz ...«
    Auch nichts von seiner Zärtlichkeit.
    »Ich

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