Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
Vom Netzwerk:
nach rechts?«
    »Okay. Ich bin bereit.«
    »Jetzt!«
    Stöhnend vor Anstrengung, aber spielerisch-anmutig wie zwei aufeinander eingespielte Tanzpartner, rollten Signor Filesi und Tony das Gerüst unter Zuhilfenahme der Gesimskante herum, und kurz darauf fiel es mit Getöse aufs Dach, wo es einen Abdruck im Teerboden hinterließ. Zufrieden klopften die beiden Ladearbeiter einander auf die Schulter und wischten den Staub von ihren Arbeitsanzügen, als wäre nichts gewesen, während Christmas, Maria, Karl, Cyril, Moses und die anderen neun Männer, ebenso wie die auf dem Gehweg versammelten Schaulustigen, begeistert applaudierten.
    »Sollen wir euch das Ding aufstellen, oder kriegt ihr das allein hin, Christmas?«, fragte Signor Filesi mit einem fröhlichen Grinsen.
    »Ohne euch hätten wir das nie geschafft«, sagte Cyril zu ihm. »Obwohl ihr Weiße seid ...«
    Signor Filesi zuckte die Schultern. »Das ist keine Frage der Hautfarbe. Das macht die Routine«, sagte er bescheiden. Dann wandte er den Blick zu Moses und tippte ihm auf die Brust. »Für dich gibt es Arbeit am Slip 13, wann immer du willst. Was meinst du, Tony? Er ist zwar ein Grünschnabel, aber nicht gerade schmächtig.«
    »Ja, er könnte geeignet sein ... obwohl er nur ein Schwarzer ist«, stimmte Tony mit einem Augenzwinkern in Cyrils Richtung zu.
    Moses lachte. »Danke.«
    »Nur so aus Neugier ...«, bemerkte da Signor Filesi, »wofür zum Teufel soll das Ding eigentlich gut sein?«
    »Das ist unsere Sendestation«, antwortete Christmas stolz.

50
    Los Angeles, 1927
    Lieber Christmas,
    erst vor Kurzem habe ich erfahren, dass Du mir geschrieben hast. Ich habe Deine Briefe nie bekommen. Du meine auch nicht. Daran ist meine Mutter schuld. Mein Vater hat mich gebeten, sie nicht zu hassen. Aber ich weiß nicht, was ich fühle.
    Mir ist kalt und warm zugleich, meine Hände zittern, in meinem Magen ist ein Knoten, für den ich keinen Namen weiß, ich bin verwirrt und fassungslos und würde am liebsten gleichzeitig schreien und lachen.
    Für den Augenblick begnüge ich mich damit zu weinen.
    So zu weinen, ist eine Befreiung, weißt Du? All die Tränen zu weinen, die ich in mir habe, ohne sie aufzuhalten, ohne sie unter Eis zu begraben, ohne die Angst, auch mein Leben könnte sich hinter den Dämmen verlieren.
    Es ist komisch. Ich fühle mich, als säße ich auf unserer Bank, mit Dir. Auch damals war mir heiß und kalt zugleich, auch damals zitterten meine Hände, auch damals wusste ich keinen Namen für dieses Gefühl, das mir den Magen zuschnürte.
    Aber Du warst bei mir. Und ich hatte keine allzu große Angst.
    Danach war alles anders. Die Wärme ist aus meinem Leben und aus meinem Körper verschwunden, nur eine eisige, lähmende Kälte ist zurückgeblieben. Ich habe meinen Händen verboten zu zittern und sie stattdessen in den Sitz gekrallt in dem Zug, der mich von Dir fortbrachte. Nach Lachen war mir nie wieder zumute, nur nach Schreien. Aber ich habe es nie getan. Ich habe einfach gewartet. Auf Dich, auf einen Brief von Dir, auf ein Zeichen von Dir. Auf etwas, was mir sagte, Du würdest kommen und mich ein zweites Mal retten, wir würden wieder auf unserer Bank sitzen, Du würdest mir helfen, den schrecklichen Bann zu brechen, der mich an diese eine Nacht kettet, in der ein Mädchen mit einem Schlag alt geworden ist, ohne je eine Frau gewesen zu sein.
    Doch Deine Briefe sind nicht angekommen. Und eines Tages habe ich aufgehört zu warten. Meine Hände lösten sich von der Boje, und ich ließ mich ohne jeden Halt vom trüben, eisigen Wasser forttragen, ohne je wieder ans Ufer zurückkommen zu wollen.
    In unserem Märchen gibt es zu viele Drachen und böse Hexen. Und ich bin zu alt, als dass ich den Mut aufbrächte, sie zu bekämpfen und nach Dir zu suchen. Ich habe Angst, du könntest mit einer anderen auf der Bank sitzen. Ich habe Angst, die Bank könnte nicht mehr dort stehen. Ich habe Angst, Du könntest meinen Namen vergessen oder nicht mehr die Zeit haben, Dir anzuhören, was ich Dir zu sagen habe. Ich habe Angst, nicht zu wissen, wie ich es Dir sagen soll.
    Aber ich werde mir Deine Worte vorstellen, die ich nie gelesen habe. Und ich werde mich von ihnen wärmen lassen. Immer, wenn ich Angst habe, immer, wenn es dunkel ist. Immer, wenn ich Lust habe zu lachen.
    Vergib mir, dass ich zu mehr nicht imstande bin. Vergib mir, dass ich kein Vertrauen hatte. Vergib mir, dass ich den Drachen unser Märchen habe vergiften lassen. Vergib mir, dass ich nicht

Weitere Kostenlose Bücher