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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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fähig war, erwachsen zu werden, sondern einfach nur alt. Vergib mir, dass ich es nicht geschafft habe, an uns zu glauben.
    Doch es hat uns gegeben. Und tief in mir drin wird es uns für immer geben.
    Ich stehe nun von der Bank auf, Christmas. Christmas, Christmas, Christmas. Es ist schön, das zu sagen. Ich liebe Dich.
    Deine, und niemals Deine, Ruth
    Ruth faltete das Blatt zusammen. Dann riss sie es in der Mitte durch. Und zerriss es weiter. Bis die Schnipsel so klein waren wie Konfetti. Sie trat ans Fenster und warf sie hinaus.
    Ein Fußgänger hob den Blick und bemerkte im vierten Stock eines der Häuser am Venice Boulevard ein dunkelhaariges Mädchen, das reglos zusah, wie ein paar Papierflocken hinabrieselten. Und obwohl er aus der Entfernung ihre Augen nicht erkennen konnte, war er sicher, dass das Mädchen weinte. Verhalten und so würdevoll, wie es einem tiefen, dunklen Schmerz gebührte.
    »Dein heutiges Modell hat angerufen, er schafft es nicht, in die Studios zu kommen«, sagte Clarence, der eben zur Tür hereinkam.
    Als Ruth sich umdrehte, waren ihre Augen trocken, doch auf ihrem Gesicht lag ein schmerzlicher Ausdruck.
    Mr. Bailey schlug den Blick nieder, so als hätte er sie beim Eintreten nackt vorgefunden. »Entschuldige ...«, bat er leise.
    »Dann habe ich also heute frei?«, fragte Ruth scherzhaft.
    »Nein«, erwiderte Clarence. »Er möchte, dass du zu ihm nach Hause kommst.«
    Ruth erstarrte.
    »Er ist ein anständiger Kerl«, sagte Clarence.
    Ruths Blick schweifte im Zimmer umher.
    »Er ist seltsam ... aber ein anständiger Kerl.« Mr. Bailey trat näher an Ruth heran. »Er schickt seinen Fahrer, aber wenn du willst, hole ich das Auto und fahre dich selbst hin.«
    »Nein, schon gut ...« Ruth ging hinüber zu ihrer Tasche und überprüfte die Fotoapparate.
    »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte da Clarence.
    Ruth sah ihn an. Ihr war bewusst, dass er damit nicht den Fototermin meinte. Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Dann umarmte sie ihn. »Danke«, flüsterte sie.
    Mr. Bailey strich ihr eine ganze Weile schweigend über das Haar, als wäre die Zeit stehen geblieben.
    Und Ruth spürte, wie eine Art innerer Frieden ihren Schmerz und ihre Verwirrung linderte. Sie hatte geglaubt, Christmas hätte sie vergessen. Sie hatte an ihm gezweifelt. Er hat mich vergessen, weil ich schmutzig bin und überall nur Schmutz sehe, hatte sie sich so oft gesagt. Das war es, was sie am meisten schmerzte: Christmas nicht vertraut zu haben. Ich habe dich verraten, dachte sie und fühlte sich von einer tonnenschweren Last begraben. Ich verdiene dich nicht.
    Da entwand sie sich der Umarmung. Sie sah Mr. Bailey an. »Noch nie habe ich jemand so Bedeutendes fotografiert ...«
    Clarence lächelte und winkte ab.
    »Ich meine es ernst«, sagte Ruth.
    »Er hat ein Gesicht wie wir alle. Zwei Augen, eine Nase und einen Mund«, gab Clarence Bailey zurück.
    Ruth seufzte. »Was ist, wenn er meine Aufnahmen schrecklich findet?«
    »Schau ihn dir genau an und dann gib ihm das richtige Licht.«
    Ruth öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch in dem Moment steckte Odette den Kopf zur Tür herein. »Mr. Barrymores Chauffeur ist jetzt da.«
    »Geh schon«, sagte Clarence. Er bückte sich nach Ruths Tasche und reichte sie ihr. »Zwei Augen, eine Nase und ein Mund«, erinnerte er sie.
    Ruth lächelte unsicher, nahm die Tasche mit den Fotoapparaten entgegen und ging zur Tür. »Clarence«, sagte sie plötzlich und drehte sich um, »darf ich hier wohnen bleiben?«
    Mr. Bailey blickte erstaunt drein.
    »Ich weiß, ich verdiene inzwischen genug, um mir eine eigene Wohnung zu nehmen«, erklärte Ruth, »aber ich würde gern in diesem Zimmer bleiben. Darf ich?«
    Clarence lachte. »Geh schon, beeil dich.«
    Wie einst Fred hielt der Chauffeur ihr die Tür des luxuriösen Wagens auf. Ruth stieg ein, ließ sich in den Ledersitz sinken und presste die Kameratasche an sich.
    Als sie in der Villa ankamen, flüsterte eine hispanische Haushälterin dem Fahrer mit besorgter Miene und gelegentlichen Seitenblicken auf Ruth etwas zu.
    »Was ist, fangen wir an?«, ließ sich von drinnen eine tiefe, dröhnende Stimme vernehmen. Und dann tauchte John Barrymore auf, The Great Profile , wie er in ganz Hollywood wegen seiner perfekten Nase genannt wurde. Er trug einen Satinmorgenmantel und war ungekämmt.
    Erneut blickte die Haushälterin besorgt zu Ruth hinüber. »Ha bebido ...«, sagte sie leise.
    »Du sollst mich fotografieren?«, fragte

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