Der Junge, der Träume schenkte
John Barrymore. »Na los, beeilen wir uns!« Er ging zurück ins Haus.
Die Tasche in der Hand, zögerte Ruth einen Augenblick, bevor sie die Villa betrat.
Der berühmte Schauspieler fläzte im Salon in einem Sessel. Er war fünfundvierzig Jahre alt und von fesselnder und zugleich entwaffnender Schönheit. John Barrymore schien Ruths Gegenwart nicht zu bemerken. Mit verlorenem, abwesendem Blick starrte er ins Leere.
Still kniete Ruth sich hin und holte ihre Leica hervor. Sie machte eine Aufnahme, fotografierte ihn im Profil. Das perfekte Profil, das durch eine wirr in die Stirn hängende Haarsträhne entzaubert wurde. Und die fesselnden Augen, die ins Nichts blickten.
Barrymore wandte den Kopf. Er betrachtete Ruth, als sähe er sie nun zum ersten Mal, und ein versunkenes Lächeln trat auf sein Gesicht. »Aus dem Hinterhalt, was?«
»Bitte entschuldigen Sie«, entgegnete Ruth und erhob sich.
John Barrymore lachte. »Dann nenne ich dich von jetzt an ›Verräterin‹. Ich bin bekannt dafür, Spitznamen zu erfinden.«
»Darf ich so noch ein paar Aufnahmen machen?«
»Aber sicher, ich gehöre dir, Verräterin«, antwortete Barrymore und setzte sich lächelnd in Pose.
Ruth ließ die Kamera sinken. »Lächeln Sie nicht.«
»Sollen meine Verehrerinnen mich denn nicht glücklich sehen?«
Ruth gab keine Antwort, sondern sah ihn nur eindringlich an.
Sein Mund lächelte noch immer, doch sein Blick wurde ernst und nachdenklich.
Ruth drückte auf den Auslöser und spulte weiter.
Barrymore drehte ihr nun den Rücken zu. Das zerzauste Haar des Filmstars schimmerte im Licht, das durch das große Fenster des Salons hereinfiel. Seine breiten, geraden Schultern waren gekrümmt, seine Hände zu Fäusten geballt.
Ruth fotografierte ihn so.
Barrymore wandte ihr das Gesicht zu. Er hatte einen schönen, sinnlichen Mund, fast wie ein Teenager, mit leicht geöffneten Lippen, und einen verirrten Blick.
Ruth drückte auf den Auslöser. Und spulte weiter.
»Ich gehe mich anziehen«, sagte Barrymore da, stand auf und verschwand in einem Nebenzimmer.
Ruth wartete kurz, dann folgte sie ihm.
Barrymore saß in einem halbdunklen Raum. Zwischen zwei dichten Vorhängen sickerte nur ein schmaler Lichtschein hindurch, der auf seine nackten Füße, eine Flasche auf dem Fußboden und seine wie zum Gebet gefalteten Hände fiel. Mit gesenktem Kopf starrte er reglos auf die Flasche.
Ruth öffnete den Kameraverschluss, so weit es ging. Sie stellte die Belichtungszeit ein. Um möglichst ruhig zu stehen, lehnte sie sich gegen den Türrahmen. Dann drückte sie auf den Auslöser.
Barrymore reagierte nicht.
Ruth ging ins Zimmer und zog die Vorhänge ein wenig zurück, bis auch das wirr herabhängende Haar des Filmstars von Licht umflutet war. Sie kniete sich neben ihn und drückte auf den Auslöser. Dann nahm sie eine frontalere Position ein und drückte erneut auf den Auslöser. »Sehen Sie mich an«, sagte sie.
Barrymore hob nur den Blick.
Ruth fotografierte.
»Ich werde nie zulassen, dass du die veröffentlichst, Verräterin, das ist dir doch klar, oder?«, sagte Barrymore mit seiner warmen, melancholisch eingefärbten Stimme. In seinem Blick lag keine Spur von Arroganz oder Aggressivität.
Ruth drückte auf den Auslöser. »Ich schenke sie Ihnen«, antwortete sie. »Machen Sie damit, was Sie wollen.«
»Ich werde sie zerreißen.«
Ruth drückte auf den Auslöser. »Auch ich habe heute Morgen etwas zerrissen«, erzählte sie und war selbst überrascht von ihrem Geständnis.
»Was denn?«
»Etwas, was ich nicht sehen wollte«, antwortete sie, und während sie den Film weiterspulte, wurden hinter der Leica ihre Augen feucht.
Barrymore beugte sich vor. Er nahm ihr die Kamera aus der Hand, richtete das Objektiv auf sie und schoss ein Foto. »Entschuldige, Verräterin«, sagte er, als er ihr die Leica zurückgab. »Du hast sehr hübsch ausgesehen.«
Ruth errötete und stand auf.
Barrymore lachte. »Ich hab dich reingelegt, was?«
Ruth gab ihm keine Antwort.
Da stand Barrymore vom Stuhl auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Gib mir fünf Minuten. Ich ziehe mich an, und dann machen wir Fotos, die wir auch herumzeigen können.« Er sah ihr in die Augen. »Ich werde nicht lächeln, versprochen.«
Ruth ging wieder in den Salon. Sie setzte sich in den Sessel, in den sich zuvor John Barrymore sich gefläzt hatte. Sie spürte seiner Wärme nach. Und dann kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Konfetti, das auf den Venice Boulevard
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