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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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zuleide tust, bist du nicht mehr mein Sohn. Ich trenne dir eigenhändig den Schniedel ab und schneide dir danach die Kehle durch. Und sollte ich tot sein, komme ich aus dem Jenseits zurück, um dein Leben in einen endlosen Albtraum zu verwandeln. Denk immer daran«, sagte sie mit einer finsteren Wut, die Christmas Angst einjagte.
    Danach öffnete sie wieder die Tür und ging zurück in den Salon. »Wie heißt du, Mädchen?«, fragte sie.
    »Ruth ...«, kam es kaum hörbar vom Sofa.
    Ruth ..., wiederholte Christmas stumm für sich, mit einem gewissen Erstaunen.
    »Gott segne dich, Ruth.« Cetta malte ihr ein kleines Kreuz auf die Stirn. »Mein Sohn bringt dich jetzt ins Krankenhaus.« Sie warf Christmas eine Decke zu. »Gib acht, dass sie nicht friert. Und deck sie zu, damit nicht jeder sie sieht, vor allem hier nicht, zwischen den Beinen. Nur die Ärzte dürfen sie sehen.« Sie strich ihm die blonde Stirnlocke aus dem Gesicht und küsste ihn sanft auf die Wange. »Geh, mein Junge.« Noch einmal zog sie ihn an sich und sah ihm geradewegs in die Augen. »Leg sie vor dem Krankenhaus ab und lauf dann weg. Leuten wie uns glaubt man ja doch nie«, riet sie ihm mit ernster, besorgter Stimme. Schließlich wandte sie sich ab und schloss sich in ihrem Zimmer ein, wo sie sich im Bett zusammenrollte und, das Kissen auf den Kopf gedrückt, versuchte, das Keuchen ihrer alten Peiniger zu verdrängen, das ihr wieder in den Ohren klang.
    Gefolgt von Santo, stieg Christmas mit der in die Decke gehüllten Ruth auf den Armen mühsam die schmale Treppe des Hauses hinab, das Sal Tropea gehörte.
    »Soll ich dich ablösen?«, erbot sich Santo nach einiger Zeit und streckte die Arme nach dem Mädchen aus.
    Ohne dass er hätte sagen können, warum, wich Christmas einen Schritt zur Seite. »Nein, ich habe sie gefunden«, entgegnete er so feierlich, als wäre sie ein Schatz, und ging weiter. Dabei wiederholte er im Stillen unentwegt den Namen Ruth, als hätte er für ihn eine ganz besondere Bedeutung.
    Ein paar Häuserblocks weiter erinnerte Santo ihn besorgt: »Deine Mutter hat gesagt, wir sollen sie vor dem Krankenhaus auf die Treppe legen ...«
    »Ich weiß«, ächzte Christmas.
    »... sonst kriegen wir Ärger ...«, fuhr Santo fort.
    »Ich weiß.«
    »... weil sie womöglich denken ...«
    »Ich weiß!«, fuhr Christmas ihn an.
    Ruth stöhnte.
    »Entschuldige«, sagte Christmas in sanftem, vertraulichem Ton zu dem Mädchen, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. »Streich ihr die Haare aus dem Gesicht«, bat er daraufhin Santo. »Aber sei vorsichtig.«
    Dann ging er weiter. Auf den Gehwegen herrschte Gedränge. Arme Schlucker machten sich auf den Weg zur Arbeit, jugendliche Gauner lungerten bereits überall herum, fliegende Händler boten ihre zweifelhaften Waren feil, und schmutzige kleine Jungen riefen die Schlagzeilen der Morgenblätter aus. Sie alle drehten sich neugierig nach dem seltsamen Trio um, bevor sie wieder ihrer Wege gingen.
    Christmas’ Arme waren steif geworden. Er schwitzte. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Mit zusammengebissenen Zähnen, die Stirn in Falten gelegt, hielt er den Blick starr auf das Ziel gerichtet, das nun in Sichtweite lag.
    »Leg sie auf der Treppe ab, und dann verschwinden wir«, sagte Santo.
    »Ja, ja ...« Als Christmas die erste Treppenstufe erreicht hatte, war er sicher, er würde das Mädchen fallen lassen. Alle Kraft in seinen Armen war aufgebraucht. »Wir sind da ... Ruth«, sagte er leise, das Gesicht nah an ihrem. Ein seltsames Gefühl ergriff ihn, als er den Namen aussprach, der ihm mehr bedeutete als alles andere.
    Ruth lächelte schwach und versuchte, die Augen zu öffnen.
    Christmas schienen sie, inmitten der blutunterlaufenen Schwellungen, tiefgrün wie zwei Smaragde zu sein. Und er glaubte, etwas in ihnen zu erkennen, was kein anderer je würde sehen können.
    »Leg sie ab und lass uns verschwinden«, drängte Santo mit ängstlichem Unterton.
    Doch Christmas hörte ihn nicht. Er sah das Mädchen an, das seinen Blick erwiderte und dabei zu lächeln versuchte. Das Mädchen mit den smaragdgrünen Augen. »Ich heiße Christmas«, sagte er und ließ Ruth in seine schwarzen Augen blicken. Denn ihr würde er zeigen, was er niemandem, sonst je offenbaren würde.
    Ruth öffnete ganz leicht den Mund, als wollte sie sprechen, aber sie schwieg. Sie streckte ihre Hand unter der Decke hervor und legte sie auf seine Brust.
    Christmas konnte die Lücke zwischen den Fingern spüren, die

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