Der Junge, der Träume schenkte
Inschriften übersät war. »Schreib den Namen unserer Gang dahin!«, befahl er ihm ganz wie ein Gangsterboss. »Sie sollen sich daran erinnern, wer wir sind. Aber schreib ihn richtig groß.«
Santo nahm den Nagel und ritzte die Buchstaben tief in die Wand hinein. Weiß hoben sie sich vom braunen Putz ab.
» Di ... am ... ond ... Do ... gs ... «, entzifferte Joey mühsam und wiederholte dann: » Diamond Dogs .« Er sah hinüber zu Christmas. »Cool«, sagte er.
10
Manhattan – Coney Island – Bensonhurst, 1910
An der neuen Welt beeindruckte Cetta zweierlei in besonderem Maße: die Menschen und das Meer.
In den Straßen der Stadt, vor allem in den gewöhnlichen Bezirken, wimmelte es immerzu von Menschen. Nie zuvor hatte Cetta so viele Leute auf einem Fleck gesehen. In wenigen Wohnhäusern hätten sämtliche Bewohner ihres Heimatdorfes unterkommen können. Und allein in der East Side standen Hunderte solcher Wohnhäuser. Dicht an dicht lebten die Menschen in den Häusern, den Zimmern, auf der Straße. Es war unmöglich, einander nicht zu berühren, Gespräche nicht mit anzuhören, Körpergerüche nicht wahrzunehmen. Cetta hatte nicht gewusst, wie viele Rassen und Sprachen es gab. Und sie hatte nicht gewusst, wie verschieden Menschen sein konnten – stark und schwach, arglos und verschlagen, reich und arm –, und alle diese Menschen lebten an einem einzigen Ort. Wie in dem Babel, von dem der Priester in der Messe gepredigt hatte, zu Hause in ihrem Dorf. Und Cetta fürchtete, genau wie jenes andere würde auch dieses Babel, in das sie eben erst gekommen war, untergehen. Gerade jetzt, da sie hier Fuß gefasst und die fremde, komplizierte und zugleich faszinierende, weiche, harmonische Sprache gelernt hatte. Die einzige Sprache, die ihr amerikanischer Sohn lernen würde.
»Ihr dürft mit Christmas nicht Italienisch sprechen«, hatte sie zu Tonia und Vito Fraina gesagt. Auch sie selbst redete nicht mehr in ihrer Muttersprache mit den beiden alten Leuten, die immer mehr zu einer Art Familie für sie wurden. Die Welt jenseits des Ozeans existierte nicht länger für Cetta. Sie hatte sie ausgelöscht, allein mit Willenskraft. Die Vergangenheit gab es nicht mehr. Nur diese Stadt existierte nun noch. Die neue Welt. Sie würde Christmas’ Heimat sein.
An manchen Tagen machten die Straßen Cetta Angst. An anderen Tagen hingegen lief sie mit Christmas auf dem Arm – denn ihr Sohn sollte sich von Beginn an mit seiner Welt vertraut machen – mit offenem Mund ziellos umher und beobachtete die Autos, die hinter den Pferdekarren hupten, betrachtete ihr Spiegelbild in Schaufenstern voll mit Süßigkeiten oder Kleidern, hob die Nase zum Himmel, der von den Hochbahngleisen verdunkelt oder von Wolkenkratzern verstellt war, bestaunte die vor Kurzem vollendete Manhattan Bridge mit ihren stählernen Pfeilern und Bögen und Seilen, die sich aus dem Wasser erhoben und, miteinander verschweißt, auf wundersame Weise über dem East River schwebten. Dann wieder glaubte Cetta jedoch in den engen, dunklen, müllverstopften Gassen inmitten stinkender Menschen zu ersticken. Ein andermal überkam sie ein Gefühl von Trunkenheit in den breiten Straßen, wo die Frauen nach exotischen Blumen und die Männer nach kubanischen Zigarren dufteten. Doch wo immer sie auch entlangging, überall wimmelte es von Menschen, so vielen, dass man sie nicht mehr zählen konnte. Vor lauter Menschen schien die Stadt keinen Horizont zu haben.
Vielleicht war es deshalb für Cetta eine Art Überraschung gewesen, als sie nach all ihren Streifzügen und Erkundungen das Meer entdeckt hatte. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass es ganz in der Nähe war, schließlich war sie über den Ozean hergekommen. Aber die Stadt mit ihrem Lärm, Beton und Gewimmel ließ das Meer vergessen.
Nachdem Cetta einen Augenblick zuvor noch von Häuserblocks umringt gewesen war, hatte sie sich kurz darauf im Battery Park mit seinen gepflegten Blumenbeeten wiedergefunden, wo der Blick bis in weite Ferne reichte, bis zum Meer. Sie war einer lärmenden Menschenmenge bis zum Fähranleger gefolgt, wo Seeleute, Kinder und Frauen Fahrkarten kauften. Drüben – so die Werbetafeln – jenseits des Meeres, jenseits der anderen unendlichen Häuserwelt, zu der Brooklyn gerade heranwuchs, lag die Vergnügungsinsel. Ohne eigentlich zu wissen, warum, reihte Cetta sich in die Schlange vor dem Fahrkartenschalter nach Coney Island ein. Sie kaufte ein Ticket und ließ sich von der Menge
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