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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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aus der Flasche und bot sie auch Ruth mehrmals an.
    Der erste Tropfen, der Ruth in die Kehle rann, verursachte ihr einen Hustenanfall. Und je mehr sie hustete, desto mehr musste sie lachen. Und Bill lachte mit ihr und trank und trank, bis die Flasche in null Komma nichts leer war und aus dem Fenster flog.
    Irgendwann hielt Bill den Pritschenwagen an.
    »Hier ist ja gar nichts«, sagte Ruth verwundert und wischte sich die Lachtränen vom Gesicht.
    »Wir sind hier aber richtig«, entgegnete Bill. Und wieder bemerkte Ruth bei ihm diesen undurchsichtigen, finsteren Blick. Finster wie die menschenleere Straße, an der sie standen.
    »Du hast versprochen, mich nicht zu küssen«, sagte Ruth.
    »Ich habe es geschworen«, bestätigte Bill. »Und was ich geschworen habe, halte ich immer«, meinte er und griff dabei Ruth mit einer Hand zwischen die Beine, schob ihren Rock hoch und zerriss ihren baumwollenen Kleinmädchenschlüpfer.
    Ruth versuchte, sich zu wehren, doch Bills Faust traf sie mitten ins Gesicht. Und dann noch einmal und noch einmal.
    Die Knochen in Ruths Mund und Nase brachen mit einem hässlichen Knacken. Danach war alles still.
    Als Ruth das nächste Mal die Augen aufschlug, fand sie sich auf der Ladefläche des Wagens wieder. Bill lag keuchend auf ihr und stieß ihr etwas Heißes zwischen die Beine. Und während er zustieß, wiederholte er wieder und wieder lachend: »Siehst du, dass ich dich nicht küsse? Du Schlampe, siehst du, dass ich dich nicht küsse?«
    Schließlich spürte Ruth eine neue, feuchte Wärme und sah, wie Bill den Rücken krümmte und den Mund aufriss. Als er sich aufrichtete, schlug er ihr noch einmal ins Gesicht. »Scheißjüdin!«, schimpfte er. »Scheißjüdin, Scheißjüdin, Scheißjüdin!« Er wiederholte das Schimpfwort so viele Male, wie die Hose, die er nun wieder hochzog, Knöpfe hatte. Dann nahm er Ruths Hand und versuchte, ihr den Smaragdring vom Finger zu streifen. »Darauf war ich schon den ganzen Abend scharf, du Miststück«, zischte er.
    Doch der Ring ließ sich nicht abziehen. Bill spuckte auf ihren Finger und versuchte es fluchend erneut, diesmal mit Gewalt. Schließlich stand er auf und traktierte sie mit Fußtritten. Er trat ihr in den Leib, in die Rippen und ins Gesicht. Und während er sich dann mit gespreizten Beinen auf ihre Brust kniete, damit sie sich nicht bewegen konnte, schlug er sie ein weiteres Mal mit der Faust ins Gesicht und lehnte sich vor zu einem Leinensack.
    »Willst du die wirkliche Welt sehen?« Er zog eine Schere aus dem Sack hervor, wie er sie zum Rosenschneiden benutzte, öffnete die scharfen Klingen und legte sie an Ruths Ringfinger. »Bitte sehr: Das ist die wirkliche Welt, Jüdin.« Nach diesen Worten drückte er die Schere zusammen.
    Der Knochen knackte wie ein verdorrter Zweig.
    Bill zog den Ring ab, warf den amputierten Finger irgendwo ins Gebüsch neben der Straße und stieß Ruth aus dem Pritschenwagen. Während sie schrie und schrie, ließ Bill den Motor an und fuhr davon. Und da hörte Ruth es wieder, sein unbekümmertes Gelächter.

9
    Manhattan, 1922
    »Mama! Mama!« Christmas kam in die kleine Wohnung im ersten Stock des Hauses Nummer 320 in der Monroe Street, wo sie seit nunmehr fünf Jahren lebten, seit ihrem Auszug aus dem fensterlosen Kellerraum, in dem er aufgewachsen war. »Mama!« Er klang ein wenig wie ein Kind, das sich verlaufen hat.
    Es war kurz nach Sonnenaufgang.
    Wie gewöhnlich war Cetta erst spät in der Nacht heimgekehrt. Sie war nun eine Frau von achtundzwanzig Jahren und hatte ihres Alters wegen inzwischen das Gewerbe gewechselt. Die Arbeitszeiten hingegen nicht. Die Stimme des Sohnes drang im Schlaf zu ihr vor. Cetta drehte sich im Bett herum, zog sich das Kissen über den Kopf und hielt sich damit die Ohren zu, um den fantastischen Traum nicht zu verlieren, den sie gerade träumte und der so wenig mit ihrem wahren Leben zu tun hatte.
    »Mama!« Christmas klang verzweifelt und dringlich. »Mama, bitte, wach auf!«
    Im Dämmerlicht des kleinen Zimmers schlug Cetta die Augen auf.
    »Mama ... komm mit ...«
    Cetta rappelte sich im Bett auf, das den beengten Raum beinahe ganz ausfüllte. Christmas trat zurück, während er den erschrockenen Blick nicht von seiner Mutter abwandte, die sich den Schlaf aus den Augen rieb und aufstand. Sie gingen in die Küche, wo an der Wand nah beim Ofen die Pritsche stand, auf der Christmas schlief.
    »Was willst du um diese Zeit von mir? Wie spät ist es eigentlich?«, fragte

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