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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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weitertragen bis zum Kai, wo gerade mit Getöse eine gewaltige Fähre anlegte. Während die Leute in den Bauch des eisernen Wals hineindrängten, überfiel Cetta plötzlich die Angst, womöglich nicht mehr zurückzufinden zu der fensterlosen Wohnung und dem Bordell, in dem sie ihren Körper an Fremde verkaufte, und so trat sie, das Vergnügungsticket in der Hand, zur Seite. Abseits stehend sah sie zu, wie die Taue wieder ins Wasser glitten und die dröhnenden Maschinen des Fährschiffs Schaum aufschlugen. Während die Fähre davonfuhr, kam eine andere ihr entgegen. Die beiden Metallungeheuer tauschten zur Begrüßung laute Sirenenrufe aus und kamen einander so nah, dass sie sich beinahe berührten. Derweil drängte sich am Kai erneut eine lärmende Menschenmenge. Noch einen Augenblick betrachtete Cetta das Meer, das weder blau noch grün, sondern dunkel war wie Petroleum und gar nicht wie das Meer aussah, das sie kannte, bevor sie, Christmas und die Fahrkarte nach Coney Island fest an sich gepresst, in einer Mischung aus Angst und Aufregung davonlief.
    Von dem Tag an jedoch kehrte sie eine Woche lang jeden Morgen an diesen Ort zurück, um auf den Ozean hinauszuschauen. Als wollte sie sich in Erinnerung rufen, dass es ihn gab. Sie setzte sich im Battery Park ein wenig abseits auf eine Bank und sah zu, wie die Fährschiffe ankamen und abfuhren, stets voll besetzt mit Passagieren. Auch ich werde eines Tages meinen Heimweg sicher kennen und so den Mut finden, mich weiter von zu Hause zu entfernen, dachte sie. Während sie so auf der Bank saß, ließ sie Christmas auf ihrem Bein wippen und hielt die Fahrkarte nach Coney Island fest in der Hand. Sie sah den Möwen zu, wie sie durch die Luft segelten, und fragte sich, ob sie wohl bis hinauf zu den Wolkenkratzern fliegen konnten. Was sie dort oben sahen? Und was sie von dem Menschenzoo unter ihnen halten mochten?
    Eine Woche später saß sie, auf dem Weg zum Bordell in der 25th Street, zwischen der 6th und der 7th Avenue, mit Sal im Auto.
    »Warst du schon einmal auf Coney Island?«, fragte sie.
    »Ja.« Mehr sagte er nicht, wie üblich.
    Cetta schaute eine Weile nach draußen. Immer wieder war sie erstaunt, wie sich das Stadtbild urplötzlich veränderte, als gäbe es da eine unsichtbare Grenze. Die erdrückenden, von Bettlern bevölkerten Straßen, die kleinen Läden mit ihren zerschlissenen, ausgebleichten Markisen und den staubigen Schaufenstern, der Matsch auf der Fahrbahn – all das verschwand mit einem Mal, und ringsum war es plötzlich heller. Die Passanten trugen graue Anzüge und weiße Hemden mit gestärktem Kragen, Krawatten, Hüte, die nicht ausgebeult waren; sie rauchten Pfeife oder längere Zigarren und hasteten, – eine doppelt gefaltete Zeitung in Händen, über die Gehwege. Die Pferdekarren hatten den Automobilen das Feld geräumt. An den Schaufenstern der Läden haftete kein Staub mehr, die Markisen zeigten sich in bunten Farben, gestreift und mit leuchtenden Aufschriften. Cetta hätte nicht zu sagen vermocht, wo genau die Stadt beschloss, ihr Gesicht zu verändern. Sie wusste nur, dass auf dem Weg in Richtung Norden an einem bestimmten Punkt stets ein Schimmern ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Instinktiv wandte sie dann den Kopf und las den Schriftzug:
    Fisher & Sons – Bronze Powders.
    Das Licht strahlte mit einem goldenen Schimmern von einer Auswahl an Metallgegenständen zurück, die restauriert wurden. Und wenn Cetta wieder nach vorn blickte, hatte jenseits der Frontscheibe von Sals Wagen die Stadt ihr Gesicht verändert.
    »Macht es Spaß?«, fragte Cetta mit einem Lächeln.
    »Was?«
    »Coney Island.« Ihre Finger tasteten instinktiv nach der Handtasche – der ersten Handtasche ihres Lebens, aus schwarzem Lackleder –, in der sie das Ticket für die Fähre aufbewahrte.
    »Wenn man’s mag«, ertönte Sals tiefe, schroffe Stimme.
    Und wieder senkte sich Schweigen über sie herab. Cetta sah hinauf zu den Gleisen der Hochbahn. Für einen Moment übertönte das Zuggeratter das Motorengeräusch des Wagens, und die jungen Zeitungsschreier, die die Schlagzeilen der Titelseiten ausriefen, verstummten.
    »Sal, du bist so langweilig wie ein Toter!«, rief Cetta unvermittelt und umklammerte den Griff ihrer Handtasche, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
    Mit quietschenden Reifen stoppte der Wagen abrupt mitten auf der Fahrbahn. Cetta schlug mit dem Gesicht gegen die Scheibe. Das Auto hinter ihnen hupte wie wild. Als der Fahrer an ihnen vorbeifuhr,

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