Der Junge, der Träume schenkte
festgemacht waren. Die Neuankömmlinge würden bald das Schiff verlassen dürfen. Zitternd wartete Bill ab. Da schließlich griff er nach der ersten Sprosse der kleinen Leiter und tauchte oben am Pier auf.
»Hey, du«, rief jemand.
Bill wandte sich nicht nach der Stimme um. Er kletterte die letzten Sprossen hinauf und ging auf die aus dem Schiff strömende Menschenmenge zu.
»Du, bleib stehen«, befahl die Stimme.
Bill wollte schon losrennen, blieb jedoch stehen. Langsam drehte er sich um. Der Polizist war groß und kräftig und zückte, während er auf ihn zukam, seinen Schlagstock. Bei ihm waren drei Landungshelfer.
»Wer bist du?«, fragte der Polizist, als er dicht vor ihm stand.
Bill sah hinüber zu den Einwanderern, die, kaum hatten sie die Gangways verlassen, wie eine Herde Schafe in Dreierreihen eingeteilt wurden. Dann blickte er zurück auf den Polizisten. Er wusste nicht, was er tun sollte, und hatte keine Ahnung, welche Sprache die Neuankömmlinge sprachen. »Ich ...«, sagte er auf gut Glück, »gehöre zu denen.«
Der Polizist deutete auf die Menschen, die über die Gangways strömten. »Und was zum Teufel tust du dann hier?«
Nun blickte Bill auf die Leiter.
»Ich wette, er war kacken«, sagte einer der Helfer. »Neun von zehn kommen mit Durchfall hier an.«
Bill sah ihn an.
»Warst du da unten kacken?«, wollte der Polizist wissen.
Bill nickte.
Der Polizist brach in Gelächter aus. »Was für eine Sauerei! Ihr Iren seid wie die Tiere. Es gibt Klos in Amerika.«
Die drei Helfer fielen in das Gelächter des Polizisten ein. »Guck mal, er ist ganz blau im Gesicht«, sagte einer. »Der hat sich die Seele aus dem Leib geschissen.«
Der Polizist hielt Bill den Schlagstock an die Brust. »Stell dich zu den anderen in die Schlange«, befahl er und versetzte ihm einen Stoß.
Langsam drehte Bill sich um, und während ihm Freudentränen in die Augen stiegen und es ihn innerlich schüttelte vor Lachen, ging er ohne jede Eile hinüber zu den Iren.
Und auch die anderen hinter ihm lachten. Der Polizist trat an den Rand des Stegs und blickte hinab aufs Wasser. »Wie das hier nach Scheiße stinkt«, rief er. Die drei Landungshelfer beugten sich zum Wasser vor und fächelten sich Luft zu. »Der hat alles verpestet«, sagte einer.
»Er wird doch wohl wenigstens ein paar Ratten umgebracht haben«, meinte ein anderer.
»Hey, Ire, was zum Teufel hast du gegessen?«, brüllte der Polizist.
Bill wandte sich um und grinste. Dann stellte er sich mit den anderen in eine Reihe und musterte seine neuen Weggefährten. Jeder der Einwanderer hielt in der Hand ein Dokument, auf dem vermerkt war, welches Schiff ihn nach New York gebracht hatte.
Am Ende der Schlange versammelten drei Beamte der Einwanderungsbehörde die Männer auf der einen Seite, die Frauen und Kinder auf der anderen. Von dort wurden sie in eine Halle geführt, wo eine Gruppe Ärzte jeden der Neuankömmlinge im Schnellverfahren auf seinen Gesundheitszustand hin untersuchte. Bill beobachtete, wie manch einem mit Kreide ein oder zwei Buchstaben auf den Rücken gemalt wurden. C stand für Tuberkulose, H für Herz, SC für Kopfhaut, TC für Trachom, X für Geisteskrankheit. Und wer einen Buchstaben trug, war so gut wie erledigt, man würde ihn wieder dorthin zurückschicken, wo er hergekommen war. Bill sah sich um. Er entdeckte die Waschräume und bat einen Polizisten um die Erlaubnis, sie aufsuchen zu dürfen.
Der Beamte sah ihn prüfend an, ehe er zustimmend nickte.
Als Bill den Waschraum betrat, traf er dort auf weitere fünf Personen, zwei alte Männer, zwei Jugendliche und einen Mann um die vierzig. Bill wurde unruhig. In einer der Latrinen wartete er. So lange, dass er durchzudrehen glaubte. Dann endlich bot sich die Gelegenheit.
Blondes Haar, blaue Augen, mittlere Größe, mittlere Statur. Und um die zwanzig.
»Ich muss mit dir reden«, sprach Bill den jungen Iren an und ging auf ihn zu.
Der beäugte ihn misstrauisch. Außer ihnen stand noch ein alter Mann im Waschraum.
»Ich bin hinter einen Betrug gekommen«, sagte Bill leise zu dem Jungen.
»Was für ein Betrug?«
Bill legte einen Finger an die Lippen und deutete auf den alten Mann. »Er könnte einer von denen sein«, flüsterte er.
»Wie, von denen?«
»Warten wir, bis er weg ist«, gab Bill scheinbar abwehrend zurück.
»Interessiert mich auch einen Scheiß«, sagte der Junge schulterzuckend.
Bill packte ihn am Arm. »Ich bin dabei, dir den Arsch zu retten, du Idiot«, zischte
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