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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Straßen der Stadt umhergelaufen und hatte sich keinen Rat gewusst. Wie eine aufgescheuchte Kanalratte. Als er im Schutz einer Mülltonne ein wenig hatte verschnaufen und überlegen wollen, was er tun konnte, war er sich vorgekommen wie in einem Käfig. Die Furcht ließ seine Beine nicht zur Ruhe kommen, und so rannte Bill weiter. Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er im Kreis lief, in konzentrischen Kreisen immer näher auf den Fischmarkt zu. Den Ort, der ihm am meisten verhasst war. Das Reich seines Vaters, des Deutschen, der die polnische Jüdin geheiratet hatte. Da aber kam Bill plötzlich die Idee. Er erinnerte sich wieder an ein leidiges Klagelied, das sein Vater wieder und wieder angestimmt hatte. Ein Gejammer, das Bill gehasst hatte, das ihm jedoch an dem Abend mit einem Mal von Nutzen war.
    »Das Erste, was ich sah, als ich mit dem Schiff aus Hamburg ankam, war die Freiheitsstatue«, hatte sein Vater immer im Suff erzählt. »Es war Abend, und man konnte von der Stadt nichts erkennen. Aber die Umrisse der verlogenen Statue zeichneten sich gegen den Himmel ab. Sie war das Erste, was ich sah, und ich begriff nicht, dass sie eine bescheuerte Fackel hochhielt, ich dachte, es wäre ein Bündel Geldscheine. Mein Geld, das Geld, das ich in der Neuen Welt verdienen wollte, das Einzige, was mich dazu bewegt hatte, von meiner Mutter und meinem Vater fortzugehen, um nicht wie er als Fischverkäufer zu enden, der die Schuppen nicht mehr von den Händen abbekommt. Und als wäre es nicht genug, dass ich in dieser verdammten Stadt weder Geld noch Freiheit gefunden habe, sind auch meine Hände längst voller Fischschuppen. Und jedes Mal, wenn ich auf dem Markt stehe und hinaufschaue, sehe ich diese verfluchte Statue, wie sie dasteht und sich über mich lustig macht. Mit ihrem Feuer hat sie all meine Träume verbrannt.«
    Und da richtete Bill in der Dunkelheit der Kanalrattennacht den Blick nach oben und erblickte sie. Sie hielt die Fackel in der Hand, um dem Ankommenden den Weg zu leuchten und ihn willkommen zu heißen. Die Freiheitsstatue, das Symbol seiner neuen Freiheit. Während Bill auf die schemenhafte Statue blickte, ging ihm auf, was zu tun war: Er würde in New York, auf Ellis Island, an Land gehen wie einer der vielen Unbekannten, die mit dem Schiff ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten kamen. Die Fackel dort oben würde seine Träume nicht verbrennen.
    »Zum Teufel mit dir, Pa«, lachte er und vernichtete anschließend seinen Ausweis.
    Wer würde inmitten der Neuankömmlinge nach einem Mörder suchen? Bill war sich bewusst, dass nicht mehr so viele Menschen ankamen wie zu Zeiten seines Vaters und Ellis Island nun kein Auffangzentrum, sondern eher ein Inhaftierungslager war. Doch ein paar neue Ratten kamen immer noch an. Ja, die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika würde ihn willkommen heißen, ihm zu einem neuen Namen und neuen Papieren verhelfen. Verdammt komisch.
    So stahl er noch in der Nacht – nachdem er das Geld und die Edelsteine aus dem Ring in ein Wachstuch eingeschlagen und im Battery Park in einer hochgelegenen Baumhöhle versteckt hatte – ein kleines Ruderboot, wie es gewöhnlich für den Pendelverkehr zwischen größeren Booten eingesetzt wurde, und machte sich auf den Weg nach Ellis Island. Es war nicht so leicht, wie er anfangs geglaubt hatte. Das Boot war schwer, die Strömung stark, und Orientierungspunkte gab es so gut wie keine in der nächtlichen Dunkelheit. Aber er schaffte es dennoch. Von der Aufsicht unbemerkt, erreichte er vom Meer aus das Goldene Tor. Er ruderte bis an den Pier heran, zog sich aus und tauchte, einen Arm in die Höhe gereckt, damit sein Kleiderbündel nicht nass wurde, ins eiskalte Wasser ein. Atemlos vor Kälte klammerte er sich an einen Pfahl und ließ das Boot treiben. Langsam nahm die Strömung es mit sich fort.
    Mehr als einmal war er kurz davor gewesen, den Griff zu lösen, sich unter Wasser sinken zu lassen und dem Ganzen ein Ende zu setzen. Doch er hatte gesiegt. Nun, beim letzten ohrenbetäubend langen Signalton der Fähre der Einwanderungsbehörde, wusste er, dass er gesiegt hatte. Eine Welle schlug schäumend unter die Brücke und verbreitete einen Geruch von Dieselkraftstoff und Salz in der Luft. Die im Wasser verankerten Pfähle bebten. In einem Gewirr von Stimmen riefen die Landungshelfer einander Zeiten und Befehle zu. Der Augenblick war gekommen. Bill konnte fast die eiserne Schiffswand berühren.
    Er wartete ab, bis die Gangways

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