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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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er. »Dir und allen anderen in unserem Alter.«
    Der Junge wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er warf einen argwöhnischen Blick zu dem alten Mann hinüber und wandte sich dann wieder Bill zu. »Was für ein Betrug?«
    Der Alte ließ einen Furz fahren und zog eine Grimasse in Richtung der jungen Männer, dann verließ er den Waschraum.
    »Was für ein Betrug?«, fragte der Junge noch einmal.
    Bill traf ihn mit dem Kopf mitten im Gesicht. Dann packte er ihn am Hals, drückte mit aller Kraft zu und versuchte, den Jungen in eine der hölzernen Latrinen zu schleifen. Der Ire war stark und wehrte sich heftig. Mit beiden Händen krallte er sich an Bills Arm und versuchte, den Würgegriff zu lockern, damit er Luft bekam. Bill war vom langen Ausharren im eiskalten Wasser erschöpft, aber der brennende Siegeswille verlieh ihm Bärenkräfte. Hinter ihm lag eine ganze Nacht, in der er ums Überleben gekämpft hatte. Eine ganze Nacht, die er mit dem Gedanken an den Tod verbracht hatte. Das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse verzerrt, drückte er immer fester zu und hielt den Fausthieben stand, die der Junge nun blind austeilte, die jedoch schwächer und schwächer wurden. Mit einer letzten Kraftanstrengung drückte Bill zweimal brutal zu. Er fühlte, wie die Luftröhre des Jungen einknickte wie der Panzer einer Kakerlake. Daraufhin zuckte der Ire mit den Beinen, trat um sich, wurde von einem Zittern geschüttelt und sank schließlich in sich zusammen.
    Bill schloss die Latrinentür und durchsuchte die Taschen des Jungen. Er fand die Reisedokumente und einen Pass. In der Unterhose stieß er zudem auf ein Bündel Geldscheine.
    Da wurde die Tür des Waschraums geöffnet. Zwei lachende Männerstimmen erklangen. Bill setzte den toten Jungen aufs Klo. Lautlos schob er sich unter der Holzwand hindurch in die Latrine nebenan und trat nach einer Weile hinaus. Er lächelte den beiden Männern zu und kehrte zurück in die große Halle.
    Nachdem er die ärztlichen Untersuchungen und ein Diktat zur Feststellung seiner orthografischen Kenntnisse hinter sich gebracht hatte, wurde er in den Registrierungssaal gebracht, einen riesigen Raum im zweiten Stock mit hohem Deckengewölbe und einer von quadratischen Säulen getragenen Empore auf halber Höhe des Raumes. In der Mitte des Saals saßen an Tischen voller Papiere und Stempel die Inspektoren der Einwanderungsbehörde. Rechts und links zwangen Metallgestelle, die an Käfige denken ließen, die Wartenden dazu, in Schlangenlinien vorzurücken.
    »Name?«, fragte der Inspektor, als Bill an der Reihe war.
    »Cochrann Fennore«, antwortete er.
    Beim Verlassen des Saals bemerkte Bill eine Gruppe Putzfrauen, die mit Strohbesen, Lappen und Eimern voll Desinfektionsmitteln in der Hand auf dem Weg zu den Waschräumen waren. Gerade ging er mit neuem Namen und neuen Papieren die Treppe hinunter, als er einen durchdringenden Schrei hörte. Die Frauen haben ihn gefunden, dachte Bill grinsend. Sie haben den Iren gefunden, der mir mein zweites Leben geschenkt hat.
    Wieder schrie eine Frau durchdringend.
    Und da musste Bill plötzlich an seine Mutter denken. Erst als er den durchdringenden Schrei der Putzfrau hörte, ging ihm durch den Kopf, dass seine Mutter gestorben war, wie sie gelebt hatte: still, ohne ein einziges Mal zu schreien oder auf andere Art aufzubegehren.
    »Wo ist Cochrann?«, hörte er hinter sich eine Stimme, als er die Fähre der Einwanderungsbehörde betrat, deren Ziel das Aufnahmezentrum in New Jersey war.
    Er drehte sich um und erblickte ein Mädchen mit roten Wangen und zerschundenen Händen, eine Wäscherin vielleicht, und ein Paar um die fünfzig. Er war klein und kräftig, vermutlich Transportarbeiter, sie bucklig, mit tiefen Augenringen und Händen, die noch zerschundener waren als die ihrer Tochter und an den Knöcheln so wund, dass sie wohl niemals mehr verheilen würden.
    »Ohne Cochrann fahre ich nicht«, sagte das Mädchen und wollte zurück auf die Gangway.
    Ein Polizist hielt sie auf. »Geh wieder rein, Aussteigen ist verboten!«
    »Ohne meinen Cochrann fahre ich nicht«, beharrte das Mädchen.
    »Geh wieder rein!«, brüllte der Polizist.
    Die Frau um die fünfzig nahm das Mädchen bei den Schultern und schob es in den Innenraum der Fähre.
    Der kräftige kleine Mann blickte suchend umher. »Er hat all unser Geld«, sagte er mutlos. Auch das Mädchen ließ suchend den Blick über die Passagiere schweifen. »Cochrann! Cochrann!« Ich bin hier, Liebes, dachte Bill, der

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