Der Junge, der Träume schenkte
unter den Rock. »Glaub mir, wir wollen uns bloß mit dir anfreunden«, sagte er.
In dem Moment drosselte der Zug seine Geschwindigkeit, da er sich einer Haltestelle näherte. Am anderen Ende des Waggons blickte der Mann von seinem Buch auf und sah geradewegs in Cettas angsterfüllte Augen. »He«, schrie er und erhob sich. Der Polizist schrak auf und wandte sich langsam um. Da kamen die Lichter der Canal Street Station in Sicht, und der Zug hielt kurz darauf an. Die drei Kleinganoven ließen von Cetta ab und machten sich eiligst davon. Der Polizist sprang aus dem Zug und nahm die Verfolgung auf.
»Sind Sie wohlauf?«, wollte der Mann um die dreißig wissen und kam auf Cetta zu.
Obwohl ihr Tränen in den Augen standen, nickte sie hastig. Der Mann zog ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es ihr. Cetta sah ihn an. Er war dünn und nicht sehr groß. Aber er hat ehrliche Augen, dachte sie. »Danke ...«
Der Mann lächelte, während er ihr noch immer das Taschentuch hinhielt. »Trocknen Sie Ihre Tränen.«
»Ich müsste mir vor allem die Nase putzen.« Sie lachte und griff nach dem Tuch. »Aber Vorsicht. Ich habe nie gelernt, es leise zu tun, so wie die Damen von Welt«, fügte sie hinzu und schnäuzte sich.
Der Mann lächelte sie offen an. »Die Damen von Welt fand ich immer schon äußerst langweilig. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Cetta nickte.
»Darf ich Sie denn auch bis nach Hause begleiten?«
Cetta erstarrte.
»Sie hatten für heute Nacht schon genug Aufregung. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen Geleitschutz zu geben.«
Prüfend sah Cetta ihn an. Er hatte gutmütige Augen. Sie konnte ihm gewiss vertrauen. »Okay«, willigte sie ein. »Wir steigen an der Cortland Station aus. Von da aus ist es noch ein Stück zu Fuß.«
»Cortland Station und dann ein Stück zu Fuß. Verstanden«, sagte der Mann, wobei er die Hand an die Schläfe führte, als salutierte er.
Cetta lachte.
»Ich heiße Andrew Perth«, stellte er sich da vor und reichte ihr die Hand.
»Cetta Luminita«, antwortete sie und erwiderte den Händedruck.
Der Mann hielt ihre Finger mit leichtem Nachdruck umschlossen und sah ihr geradewegs in die Augen. Gutmütige Augen, dachte Cetta erneut. Die Augen eines Mannes allerdings, Augen voller Begehren. Cetta kannte solche Augen, aber sie fühlte sich geschmeichelt. Sie senkte den Blick, und der Mann ließ ihre Hand los. Nach einer Weile gab sie Andrew zu verstehen, dass sie nun aussteigen mussten.
Während sie Arm in Arm über verlassene Gehwege zu Cettas Wohnhaus gingen, erzählte Andrew Perth ein wenig von sich. Als Gewerkschafter befasste er sich mit den Arbeitsbedingungen der Arbeiter. Und während er sich über die unzumutbaren Arbeitszeiten, die Elendslöhne und die Schikanen ausließ, denen die Arbeiter hilflos ausgesetzt waren, bemerkte Cetta das Feuer in Andrews Augen. Und sie entdeckte darin eine wahre Leidenschaft. Eine Leidenschaft wie bei einer großen Liebe.
Als sie vor dem Hauseingang ankamen, blieb Cetta stehen. »Wir sind da.«
»Schade«, erwiderte Andrew und sah sie an.
Cetta lächelte und errötete, denn in dieser Nacht war sie keine Hure, sondern einfach ein ganz normales Mädchen, das einen anständigen Mann kennengelernt hatte. Einen Mann, dem sie gefiel und der sie nicht ausnutzen würde. »Ich muss gehen«, sagte sie, weil sie wusste, der Augenblick würde nicht ewig dauern. Eilig schüttelte sie Andrew die Hand, drehte sich um und lief in ihren stickigen Kellerraum hinunter.
An einem der folgenden Abende traf sie Andrew ein zweites Mal, an der Haltestelle Cortland Street. Sie lachten sich an, und Andrew bot an, sie nach Hause zu begleiten. Als der Zeitpunkt des Abschieds gekommen war und sie sich die Hand gaben, hielt Andrew Cettas Finger umfangen und sah sie ernst an.
»Es war kein Zufall, dass wir uns getroffen haben«, gestand er ihr. »Ich wollte Sie wiedersehen.«
Cetta stockte der Atem. Sie wusste nichts zu erwidern.
»Darf ich Sie einmal zum Abendessen einladen?«, fragte er.
»Zum Abendessen ...?«
»Ja.«
»In ein Restaurant ...?«
Niemand hatte Cetta je zum Abendessen eingeladen. Sie war fast neunzehn Jahre alt und niemand hatte sie je zum Abendessen ausgeführt. Denn sie war kein Mädchen wie alle anderen. Sie war eine Hure. Und mit Huren ging man ins Bett, nicht ins Restaurant. »Okay«, sagte sie aus ihren Gedanken heraus.
»Und wann?«
»Vorher muss ich Ihnen aber sagen ...« Cetta unterbrach sich erschrocken. Andrew hatte
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