Der Junge, der Träume schenkte
ehrliche Augen. Und sie sollte ihm wirklich sagen ...
»Übermorgen Abend?«, drängte er lächelnd.
Niemand hatte sie je so angesehen. »Okay«, stimmte Cetta leise zu.
»Ich hole Sie um sieben Uhr ab.«
»Ja, um sieben«, wiederholte Cetta. »Und dann ins Restaurant.«
Am nächsten Tag fuhr sie zu Sal. Während sie nebeneinander in dem winzigen Raum saßen, ging ihr durch den Kopf, dass sie auch ihm etwas sagen sollte. Und da nahm sie zum ersten Mal jenes neue Gefühl in sich wahr: Ein Gefühl von Schuld breitete sich in ihr aus. Aber warum fühle ich mich schuldig?, dachte sie, während sie schweigend dasaßen. Es ist nichts passiert. Ich tue nichts Unrechtes! Das Schuldgefühl schlug plötzlich in Wut um, und in diesem Moment meinte sie, Sal zu hassen.
Auf der Rückfahrt nach Manhattan wandte sich Cetta im Boot der Strafvollzugsbehörde zu dem düsteren, trostlosen Bau um. »Ich tue nichts Unrechtes, Sal«, sagte sie so leise, dass die Strafvollzugsbeamten sie nicht hörten. »Ich gehe bloß essen.«
Ma’am erzählte sie, Christmas gehe es nicht gut und er brauche sie. Nachdem sie bis spät in die Nacht gearbeitet hatte, eilte sie nach Hause und schlüpfte aufgeregt wie ein kleines Mädchen ins Bett. Erst bei Tagesanbruch fand sie Schlaf, und als Signora Sciacca ihr Christmas zurückbrachte, verfluchte Cetta sich selbst. Sie würde am Abend schrecklich übernächtigt aussehen! Dabei sollte Andrew sie doch hübsch finden.
Den halben Tag verbrachte sie damit, das passende Kleid auszuwählen. Sie schminkte sich zehn Mal neu, weil sie sich nie gefiel. Jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie nur das gewöhnliche Gesicht einer Hure. Sie weinte und lachte und schwankte unzählige Male zwischen Verzweiflung und Euphorie. Sie sprühte sich mit Parfüm ein. Dann wusch sie sich mit Seife und eiskaltem Wasser, weil auch das Parfüm nach Hure roch. Sie brachte Schuhe und Handtasche auf Hochglanz und steckte ihr Haar zu einem Knoten auf, um es sich gleich darauf offen über die Schultern zu kämmen.
»Sie sehen bezaubernd aus, Miss Luminita«, begrüßte Andrew sie am Abend. »In der Delancey gibt es ein italienisches Restaurant. Ist Ihnen das recht?«
»Wieso nicht?«, entgegnete Cetta, obwohl sie diese Floskel immer sehr affektiert gefunden hatte.
»Darf ich dich Cetta nennen?«, fragte er sie nach einigen Schritten.
Sie hakte sich bei ihm ein. »Ja, Andrew.«
Ein paar kleine Schneeflocken schwebten durch die Luft und glänzten wie Edelsteine, sobald sie in den Lichtkegel einer Straßenlaterne rieselten.
»Ist dir kalt?«
»Nein«, antwortete Cetta lächelnd.
Das Restaurant war ein schlichtes Lokal, in dem es nach Knoblauch und Wurst roch. Das Speiseangebot stand in weißer Schrift auf der Fensterscheibe geschrieben. Die Spezialitäten des Hauses waren dick unterstrichen.
»Ich wünschte, ich hätte so dunkle Augen wie du, Cetta«, sagte Andrew da.
Cetta errötete, bevor sie verlegen erwiderte: »Ich dagegen wünschte, ich hätte so helle Augen wie du. Sie wirken sehr amerikanisch.«
Während sie Caponata aus Paprikaschoten und Auberginen, pikante Würstchen in Tomatensoße und zum Nachtisch Cannoli mit einer Füllung aus Ricottacreme und kandierten Früchten aßen und dazu einen herben Rotwein tranken, erzählte Andrew von einer kleinen Industriestadt, in der die Fabrikbesitzer im Jahr zuvor »das Maß überschritten hatten«, wie er sich ausdrückte.
»Silk City, du weißt schon«, sagte er.
»Wo liegt denn das?«
»Hast du etwa noch nie davon gehört?«, fragte Andrew erstaunt.
Cetta schüttelte beschämt den Kopf. »Nein, tut mir leid.«
Andrew streckte die Hand über den Tisch aus. »Ich bitte um Entschuldigung, Cetta«, sagte er in sanftem Ton. »Ich habe ständig mit diesen Dingen zu tun, aber du ...« Er hielt inne, um sich kurz darauf erneut zu ereifern. »Genau das meine ich, wenn ich zu den gewöhnlichen Leuten spreche. Die Probleme der Arbeiter sind die Probleme aller, verstehst du?«
Cetta nickte schüchtern.
»Die allgemeine Unwissenheit erlaubt es den Fabrikbesitzern zu handeln, wie es ihnen gefällt. Aber das wird bald ein Ende haben, Cetta. Wenn ihr alle erst einmal für die Probleme der Arbeiter sensibilisiert seid, wird unser Kampf zum Erfolg führen. Verstehst du?«
»Ja ...«, sagte Cetta. »Ich will nicht länger unwissend sein.«
Stolz sah Andrew sie an. »Ich werde dir alles beibringen.«
Ein warmes Gefühl stieg in Cetta auf. Und Andrew begann begeistert zu
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