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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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ein Wort. Dem Italiener traute er nicht über den Weg, und der Hüne war ein solcher Schwachkopf, dass er ihn, selbst ohne es zu wollen, am Ende noch in Schwierigkeiten bringen würde.
    Im Sägewerk wimmelte es von Menschen. Überwiegend waren es Schwarze. Schwarze, die ihr Leben lang dort arbeiten würden, und Einwanderer, denen sich vielleicht einmal andere Möglichkeiten bieten würden. Doch Bill freundete sich auch mit keinem seiner Kollegen an. Er hielt sich abseits. Wenn die Sirene zur Mittagspause rief, zog er sich mit dem Taschentuch in der Hand, in das sein Essen eingewickelt war, zurück. Ganz für sich allein aß er langsam die Zwiebel, das Schwarzbrot und das getrocknete Rindfleisch und schmiedete Zukunftspläne. Doch nach zwei Wochen kreisten seine Gedanken nur noch um die Träume, die ihn des Nachts überfielen, Träume, die in den folgenden zwei Wochen zu Albträumen wurden. Nass geschwitzt und zu Tode erschrocken, wachte Bill beinahe jede Nacht von seinen eigenen Schreien auf.
    »Du gehst mir auf den Sack, Cochrann«, sagte der Italiener nach einer Weile zu ihm. Der Hüne dagegen hörte nie etwas, sondern schnarchte friedlich weiter. Als der Italiener in einer Kreissäge den halben Arm verlor, wurde er vom Sägewerk entlassen, und an seine Stelle trat ein alter Mann, der beinahe seinen ganzen Lohn für Schmuggelschnaps verprasste und in der Nacht ebenso schnarchte wie der Hüne. So blieb Bill mit seinen Albträumen allein.
    Die bösen Träume waren immer anders und doch gleich. Egal, wie schön sie begannen – sie endeten stets mit seinem Tod: Bill starb durch die Hand der jüdischen Hure Ruth. Im ersten Traum sah er sich in einem vornehmen Restaurant. Der Kellner brachte ihm einen Teller mit glänzendem Silberdeckel, unter dem sich ein Brathähnchen mit Kartoffeln verbergen sollte. Als Bill jedoch den Deckel abnahm, lag auf dem Teller nur der abgetrennte Finger einer Frau. In dem Moment rammte ihm der Kellner ein Bratenmesser in den Hals. Und mit einem Mal war aus dem Kellner die jüdische Hure geworden. Oder aber er träumte, einem Vogel gleich durch die Lüfte zu schweben. Und unvermittelt erschien Ruth, verkleidet als Tontaubenschützin, und gab einen Schuss auf ihn ab. Oder sie ertränkte ihn, erstickte ihn, zündete ihn an, erhängte ihn oder brachte ihn auf den elektrischen Stuhl.
    Ruth drangsalierte ihn. Und während er ganz für sich allein sein Mittagessen aß, gelang es ihm nicht, die erschreckenden Bilder, die ihn in der Nacht heimgesucht hatten, abzuschütteln. Auch mit dem Schnaps des Alten hatte er sich schon zu betäuben versucht. In der Nacht hatte er dann geträumt, er wäre vergiftet worden. Und als seine Muskeln lahm und steif wurden, lachte Ruth und zeigte ihm die blutüberströmte Hand, an der der Finger fehlte.
    Nach sieben Monaten hatte Bill tiefe dunkle Augenringe und einen irren Blick. Er versuchte, gegen den Schlaf anzukämpfen und sich nachts wach zu halten. Doch nach der anstrengenden Arbeit fielen ihm sehr schnell die Augen zu, und Ruth kehrte zu ihm zurück. Im Laufe der sieben Monate fürchtete Bill, verrückt zu werden. Daher kam er eines Abends, nachdem er seinen Wochenlohn abgeholt hatte, nach Hause, sammelte ohne ein Wort seine wenigen Habseligkeiten zusammen, durchsuchte die Küche der alten Frau, bis er etwas Geld fand, steckte es ein und verschwand. Es war an der Zeit, zum Battery Park zurückzukehren, sich zu holen, was ihm gehörte, und etwas zu unternehmen, um sich wenigstens von einem Teil des in ihm aufgestauten Hasses zu befreien. Seine Haare und sein Bart waren inzwischen lang und ungepflegt. Niemand würde ihn erkennen. Nach all den Monaten würde sich ohnehin keiner mehr an ihn erinnern. In dem Elendsbezirk, aus dem er stammte, hinterließ der Tod keine nennenswerten Spuren. Und zur Sicherheit hatte er in der Hosentasche ein Messer, das ihn beschützen würde.
    Am folgenden Morgen hielt er auf der Fahrt nach Hause in Richmond an einem Schreibwarenladen an. »Ich muss einen Brief an ein Mädchen schreiben«, erklärte er. »Ich hätte gern einen farbigen Umschlag, vielleicht mit einer Zeichnung drauf. Irgendetwas Heiteres.«
    Die Verkäuferin gab ihm einen rosa Umschlag mit aufgedruckten Blumen.
    »Könnten Sie ihn wohl adressieren?«, fragte Bill. »Meine Handschrift ist nicht schön, ich möchte einen guten Eindruck machen.«
    Die Verkäuferin lächelte gerührt. Sie nahm einen Füllfederhalter zur Hand und wartete, dass Bill zu diktieren

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