Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
Ende der Welt? Nennst du das für uns sorgen?«
»Dein Vater hat vieles getan«, sagte sie. »Viele Dinge, auf die du stolz sein solltest. Wenn dein Vater nicht wäre, wo wäre ich dann jetzt wohl?«
»Vermutlich in Berlin«, sagte Bruno. »Du würdest in einem schönen Haus arbeiten. Mittags unter dem Efeu essen und die Bienen in Ruhe lassen.«
»Du erinnerst dich nicht mehr, als ich bei euch zu arbeiten angefangen habe, nicht?«, fragte sie leise und setzte sich kurz auf den Bettrand, etwas, das sie noch nie getan hatte. »Wie sollst du auch? Du warst erst drei. Dein Vater hat mich aufgenommen und mir geholfen, als ich ihn brauchte. Er hat mir Arbeit gegeben, ein Dach über dem Kopf. Essen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nichts zu essen hat. Du bist nie hungrig gewesen, nicht?«
Bruno runzelte die Stirn. Am liebsten hätte er gesagt, dass er gerade jetzt was zwischen die Zähne gebrauchen könnte, doch stattdessen schaute er zu Maria und stellte zum ersten Mal fest, dass er sie noch nie als richtigen Mensch mit einem Leben und einer eigenen Geschichte gesehen hatte. Letztendlich war sie immer nur das Dienstmädchen der Familie gewesen (soweit er wusste). Er konnte sich nicht einmal genau erinnern, ob er sie schon jemals in etwas anderem als ihrer Dienstmädchenuniform gesehen hatte. Aber wenn er es sich recht überlegte, so wie jetzt, musste er zugeben, dass es in ihrem Leben mehr geben musste, als immer nur ihn und seine Familie zu bedienen. Vermutlich gingen ihr Gedanken durch den Kopf, genau wie ihm. Vermutlich fehlten ihr manche Dinge, beispielsweise Freunde, die sie wiedersehen wollte, genau wie er. Und vermutlich hatte sie sich seit ihrer Ankunft hier jeden Abend in den Schlaf geweint, genau wie Jungen, die längst nicht so groß und tapfer waren wie er. Außerdem war sie ziemlich hübsch, stellte er fest, und bei diesem Gedanken war ihm innerlich ein bisschen komisch zumute.
»Meine Mutter kannte deinen Vater, als er noch ein Junge in deinem Alter war«, sagte Maria einen Augenblick später. »Sie hat für deine Großmutter gearbeitet. Sie war ihre Garderobiere, als deine Großmutter als junge Frau auf Deutschlandtournee war. Sie hat alle Kleider für ihre Konzerte hergerichtet – sie gewaschen, gebügelt, ausgebessert. Lauter prächtige Abendkleider. Und die Stickereien, Bruno! Jeder Entwurf das reinste Kunstwerk. Solche Damenschneider findest du heutzutage nicht mehr.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte bei der Erinnerung daran, während Bruno ihr geduldig zuhörte. »Sie hat dafür gesorgt, dass die Kleider ausgebreitet dalagen, wenn deine Großmutter vor einem Auftritt in ihre Garderobe kam. Und als deine Großmutter sich von der Bühne zurückzog, blieb meine Mutter natürlich mit ihr befreundet und erhielt eine kleine Pension, aber damals waren harte Zeiten, und dein Vater bot mir eine Stellung an, es war meine allererste. Ein paar Monate später wurde meine Mutter schwer krank. Sie musste gepflegt werden, und dein Vater kümmerte sich darum, obwohl ihn nichts dazu verpflichtet hat. Er bezahlte alles aus seiner eigenen Tasche, weil sie eine Freundin seiner Mutter war. Aus dem gleichen Grund nahm er mich in seinem Haushalt auf. Und als sie starb, übernahm er sämtliche Kosten für ihr Begräbnis. Bezeichne deinen Vater also nie wieder als dumm, Bruno. Nicht vor mir. Das lass ich nicht zu.«
Bruno biss sich auf die Lippe. Eigentlich hatte er gehofft, Maria würde ihm in seinem Kampf, von Aus-Wisch wegzukommen, zur Seite stehen, aber jetzt merkte er, wem sie wirklich die Treue hielt. Und er musste zugeben, dass er ziemlich stolz auf seinen Vater war, als er die Geschichte hörte.
»Na ja«, sagte er, denn im Augenblick fiel ihm nichts Klügeres ein, »das war wirklich nett von ihm.«
»Ja«, sagte Maria, stand auf und trat an das Fenster, von dem aus Bruno die Baracken und die Leute in der Ferne sehen konnte. »Damals war er sehr nett zu mir«, fuhr sie leise fort. Sie schaute jetzt auch aus dem Fenster, beobachtete die Leute und die Soldaten, die weit entfernt ihren Aufgaben nachgingen. »Im Grunde hat er ein gutes Herz, wirklich, und deshalb wundert es mich ...« Sie verlor sich in Gedanken, während sie hinaussah, und plötzlich zitterte ihre Stimme und sie klang, als würde sie gleich weinen.
»Wundert dich was?«, fragte Bruno.
»Wundert mich, dass ... wie er nur ...«
»Wie er nur was ?«, hakte Bruno nach.
Der Lärm einer knallenden Tür drang von unten
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