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Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Titel: Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Treppe und rannte dann in vollem Tempo die Stufen hinunter, weil er plötzlich das Gefühl hatte, wenn er nicht bald aus dem Haus käme, würde er in Ohnmacht fallen. Ein paar Sekunden später war er draußen und fing an, die Einfahrt auf und ab zu rennen, er musste sich unbedingt bewegen, damit er müde wurde. In der Ferne sah er das Tor, das auf die Straße führte, die zum Bahnhof führte, der nach Hause führte, doch die Vorstellung, zurückzufahren, die Vorstellung, davonzulaufen und ganz allein auf sich gestellt zu sein, war noch unangenehmer als die Vorstellung, zu bleiben.

Kapitel sieben

    Mutter nimmt Verdienst für etwas in Anspruch, das sie nicht getan hat
    Mehrere Wochen nach Brunos Ankunft in Aus-Wisch mit seiner Familie und ohne die geringste Aussicht, von Karl, Daniel oder Martin besucht zu werden, kam er zu dem Schluss, dass er sich schnellstens einen Zeitvertreib suchen sollte, weil er sonst langsam verrückt würde.
    Bislang hatte Bruno nur einen Menschen gekannt, den er für verrückt hielt, und das war Herr Roller, ein Mann ungefähr in Vaters Alter, der bei ihnen in Berlin um die Ecke gewohnt hatte. Man sah ihn zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten die Straße auf und ab gehen und schreckliche Streitigkeiten mit sich austragen. Manchmal geriet die Auseinandersetzung mitten im Wortwechsel außer Kontrolle, und dann wollte er mit seinem eigenen Schatten an der Wand boxen. Hin und wieder kämpfte er so erbittert, dass er mit den Fäusten auf die Backsteinmauer schlug, bis sie bluteten, dann fiel er auf die Knie und begann laut zu jammern und haute sich mit den Händen auf den Kopf. Ein paar Mal hatte Bruno ihn Worte sagen hören, die er nicht benutzen durfte, und er musste sich dann immer das Lachen verkneifen.
    »Du solltest nicht über den armen Herrn Roller lachen«, hatte Mutter zu ihm gesagt, als er ihr eines Nachmittags die Geschichte seiner letzten Eskapade erzählte. »Du hast keine Ahnung, was er im Leben alles durchgemacht hat.«
    »Er ist verrückt«, sagte Bruno, und dabei drehte er seitlich am Kopf einen Finger in Kreisen und pfiff, um zu zeigen, für wie verrückt er den Mann hielt. »Neulich ist er auf der Straße zu einer Katze gegangen und hat sie für nachmittags zum Kaffee eingeladen.«
    »Und was hat die Katze gesagt?«, fragte Gretel, die sich gerade ein Brot in der Küche schmierte.
    »Nichts«, erklärte Bruno. »War ja schließlich eine Katze.«
    »Ich meine es ernst«, beharrte Mutter. »Franz war ein sehr netter junger Mann – ich kannte ihn schon, als ich ein kleines Mädchen war. Er war freundlich und nachdenklich, und das Tanzbein konnte er schwingen wie Fred Astaire. Aber im Ersten Weltkrieg erlitt er eine schreckliche Kopfverletzung, deswegen verhält er sich heute so. Darüber lacht man nicht. Ihr macht euch keine Vorstellung, was die jungen Männer damals durchgestanden haben. Ihr Leiden.«
    Bruno war zu der Zeit erst sechs gewesen und wusste nicht genau, worauf seine Mutter anspielte. »Das war vor vielen Jahren«, erklärte sie ihm, als er nachfragte. »Bevor du geboren warst. Franz war einer der jungen Männer, die für uns in den Schützengräben gekämpft haben. Dein Vater kannte ihn damals sehr gut; ich glaube, sie haben zusammen gedient.«
    »Und was ist mit ihm passiert?«, fragte Bruno.
    »Das tut nichts zur Sache«, sagte Mutter. »Krieg ist kein geeignetes Thema für eine Unterhaltung. Ich fürchte, bald werden wir ohnehin viel zu oft darüber reden.«
    Das war etwas mehr als drei Jahre vor ihrer Ankunft in Aus-Wisch gewesen, und in der Zwischenzeit hatte Bruno nicht oft an Herrn Roller gedacht, aber plötzlich war er überzeugt, wenn er nicht etwas Vernünftiges machte, etwas, um seinen Verstand zu beschäftigen, dann würde auch er, ehe er sich's versah, durch die Straßen wandern, Streitigkeiten mit sich austragen und Haustiere zu gesellschaftlichen Anlässen einladen.
    Um sich zu beschäftigen, verbrachte Bruno einen ganzen Samstagvormittag und -nachmittag damit, eine Zerstreuung für sich zu erfinden. Ein Stück vom Haus entfernt – auf Gretels Seite und von seinem Zimmerfenster aus unmöglich zu sehen – stand eine riesige Eiche mit einem sehr dicken Stamm. Ein hoher Baum mit starken Ästen, die stabil genug waren, um einen kleinen Jungen zu halten. Die Eiche sah so alt aus, dass sie Brunos Ansicht nach vermutlich irgendwann im späten Mittelalter gepflanzt worden sein musste, ein Zeitalter, das er vor kurzem durchgenommen hatte und sehr

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