Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
länger sehen wollte, drehte er sich um, öffnete den Kühlschrank und durchsuchte ihn nach etwas Essbarem. Vom Mittagessen war noch ein halbes Huhn mit Füllung übrig, und Brunos Augen erstrahlten vor Glück, denn es gab nicht viel im Leben, was er mehr liebte als kaltes Huhn mit Salbei-Zwiebel-Füllung. Er holte ein Messer aus der Schublade, schnitt ein paar ordentliche Scheiben ab und garnierte sie mit der Füllung, bevor er sich wieder seinem Freund zuwandte.
»Ich freue mich sehr, dass du hier bist«, sagte er mit vollem Mund. »Wenn du die Gläser nicht polieren müsstest, könnte ich dir mein Zimmer zeigen.«
»Er hat gesagt, ich darf mich nicht vom Fleck rühren, sonst gibt es Ärger.«
»Darauf würde ich nichts geben«, sagte Bruno, darum bemüht, tapferer zu sein, als er es in Wirklichkeit war. »Schließlich ist das nicht sein Haus, sondern meins, und wenn Vater weg ist, führe ich das Kommando. Kannst du dir vorstellen, dass er noch nie Die Schatzinsel gelesen hat?«
Schmuel sah aus, als hörte er gar nicht richtig zu. Seine Augen waren auf die Hühnchenscheiben mit der Füllung fixiert, die Bruno sich munter in den Mund steckte. Sekunden später merkte Bruno, was Schmuel so anstarrte, und er bekam sofort Gewissensbisse.
»Entschuldige, Schmuel«, sagte er schnell. »Ich hätte dir auch was von dem Hühnchen geben sollen. Hast du Hunger?«
»Das ist eine Frage, die du mir nie stellen musst«, sagte Schmuel, dem Sarkasmus auch nicht fremd war, obwohl er Gretel nie getroffen hatte.
»Warte kurz, ich schneide dir was ab«, sagte Bruno, öffnete den Kühlschrank und schnitt noch drei ordentliche Scheiben ab.
»Nein, wenn er zurückkommt ...«, sagte Schmuel, schüttelte schnell den Kopf und sah dabei zur Tür.
»Wenn wer zurückkommt? Du meinst nicht etwa Oberleutnant Kotler?«
»Ich soll nur die Gläser polieren«, sagte Schmuel. Er schaute verzweifelt auf die Wasserschüssel vor ihm und dann auf die Hühnchenscheiben, die Bruno ihm hinhielt.
»Das stört ihn doch nicht«, sagte Bruno, den Schmuels ängstliches Verhalten verwirrte. »Ist doch nur Essen.«
»Ich darf nicht«, sagte Schmuel, schüttelte den Kopf und sah aus, als würde er gleich weinen. »Er kommt zurück, ich weiß es genau«, fuhr er fort, die einzelnen Worte folgten rasch aufeinander. »Ich hätte gleich essen sollen, als du es mir angeboten hast, jetzt ist es zu spät, wenn ich es nehme, kommt er bestimmt herein und ...«
»Schmuel! Nimm schon!«, sagte Bruno. Er trat vor und legte seinem Freund die Hühnchenscheiben in die Hand. »Iss einfach. Uns bleibt noch genug fürs Abendessen – mach dir darüber keine Gedanken.«
Der Junge starrte kurz das Essen in seiner Hand an, dann sah er mit großen und dankbaren, aber völlig verängstigten Augen zu Bruno auf. Er warf noch einen Blick zur Tür, und dann schien er eine Entscheidung zu treffen, denn er steckte sich alle drei Scheiben auf einmal in den Mund und verschlang sie in knapp zwanzig Sekunden.
»Du darfst nicht so schnell essen«, sagte Bruno. »Sonst wird dir schlecht.«
»Mir egal«, sagte Schmuel und lächelte zaghaft. »Danke, Bruno.«
Bruno lächelte zurück und wollte Schmuel gerade noch mehr anbieten, doch im selben Moment kam Oberleutnant Kotler in die Küche und blieb stehen, als er die beiden Jungen miteinander reden sah. Bruno starrte ihn an und spürte, wie die Luft dick wurde. Er sah, wie Schmuel mit hängenden Schultern nach einem Glas griff und es langsam polierte. Oberleutnant Kotler, der Bruno ignorierte, marschierte zu Schmuel und funkelte ihn böse an.
»Was machst du da?«, schrie er. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst Gläser polieren?«
Schmuel nickte rasch und fing leicht zu zittern an, als er eine Serviette nahm und sie ins Wasser tauchte.
»Wer hat dir erlaubt, in diesem Haus zu reden?«, fuhr Kotler fort. »Du wagst es wirklich, dich mir zu widersetzen?«
»Nein, Herr«, sagte Schmuel leise. »Tut mir leid, Herr.«
Er sah zu Oberleutnant Kotler hoch, der die Stirn runzelte, sich leicht vorbeugte und den Kopf schräg legte, um das Gesicht des Jungen zu untersuchen. »Hast du etwas gegessen?«, fragte er ihn mit leiser Stimme, als könne er es einfach nicht fassen.
Schmuel schüttelte den Kopf.
»Du hast sehr wohl gegessen«, behauptete Oberleutnant Kotler. »Hast du etwas aus dem Kühlschrank gestohlen?«
Schmuel öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er öffnete ihn erneut und suchte nach Worten, aber er fand keine. Er schaute
Weitere Kostenlose Bücher