Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
und vergaß fast seine Entschuldigung.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte er, wartete die Antwort aber gar nicht ab. »War das ein Fahrradunfall? Mir ist das vor ein paar Jahren in Berlin passiert. Ich bin runtergefallen, weil ich zu schnell gefahren bin, und hatte wochenlang blaue Flecken. Tut es weh?«
»Inzwischen spüre ich nichts mehr«, sagte Schmuel.
»Es sieht aber aus, als würde es wehtun.«
»Ich spüre nichts mehr«, sagte Schmuel.
»Also, das mit letzter Woche tut mir leid«, sagte Bruno. »Ich hasse diesen Oberleutnant Kotler. Er bildet sich ein, er hat das Sagen, aber das stimmt nicht.« Er zögerte kurz, denn er wollte nicht abschweifen. Er wollte es noch einmal sagen und auch wirklich so meinen. »Es tut mir sehr leid, Schmuel«, sagte er mit klarer Stimme. »Ich kann nicht fassen, dass ich ihm nicht die Wahrheit gesagt habe. Noch nie habe ich einen Freund so hängen lassen. Schmuel, ich schäme mich vor mir selber.«
Kaum hatte er das gesagt, lächelte Schmuel und nickte, und da wusste Bruno, dass ihm verziehen war. Und dann machte Schmuel etwas sehr Ungewöhnliches. Er hob den Zaun unten an, wie sonst immer, wenn Bruno ihm etwas zu essen mitbrachte, aber diesmal streckte er seine Hand durch und wartete, bis Bruno das Gleiche tat, und dann gaben sich die beiden Jungen die Hand und lächelten einander an.
Es war das erste Mal, dass sie sich berührten.
Kapitel sechszehn
Der Haarschnitt
Fast ein Jahr war vergangen, seit Bruno nach Hause gekommen war und Maria seine Sachen gepackt hatte, und inzwischen waren seine Erinnerungen an die Zeit in Berlin fast verblasst. Wenn er zurückdachte, entsann er sich, dass Karl und Martin zwei seiner drei allerbesten Freunde waren, aber der Name des dritten Jungen fiel ihm um nichts in der Welt mehr ein. Und dann passierte etwas, das es ihm ermöglichte, Aus-Wisch für zwei Tage verlassen und nach Berlin zurückkehren zu können: Großmutter war gestorben, und die Familie musste zur Beerdigung nach Hause fahren.
In Berlin stellte Bruno fest, dass er nicht mehr so klein war wie vor einem Jahr, denn er konnte über Gegenstände hinwegsehen, über die er früher nicht hatte hinwegsehen können, und in ihrem alten Haus konnte er durch das Fenster im oberen Stockwerk sehen und Berlin überblicken, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen.
Bruno hatte seine Großmutter seit der Abreise aus Berlin nicht mehr gesehen, aber er hatte jeden Tag an sie gedacht. Am deutlichsten in Erinnerung geblieben waren ihm die Stücke, die sie zusammen mit ihm und Gretel an Weihnachten und Geburtstagen aufführte und dass sie immer die passenden Kostüme hatte, egal welche Rolle er spielte. Der Gedanke daran, dass dies nun nie wieder möglich war, machte ihn ungemein traurig.
Auch die zwei Tage, die sie in Berlin verbrachten, waren sehr traurig. Da war die Beerdigung, bei der Bruno mit Gretel, den Eltern und Großvater in der ersten Reihe saß; Vater trug seine stattlichste Uniform, die gestärkte und gebügelte mit den Verzierungen. Vater sei besonders traurig, erklärte Mutter Bruno, weil er mit Großmutter gestritten und sich vor ihrem Tod nicht mehr mit ihr versöhnt hatte.
Es wurden viele Kränze in die Kirche geliefert, und Vater war stolz, dass einer auch vom Furor stammte, doch als Mutter das hörte, sagte sie, Großmutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüsste.
Bruno war beinahe froh, als sie wieder nach Aus-Wisch zurückfuhren. Inzwischen war das Haus dort sein neues Heim geworden, und es kümmerte ihn nicht mehr, dass es nur drei Stockwerke statt fünf hatte, ebenso wenig wie es ihn nicht mehr so störte, dass ständig Soldaten ein- und ausgingen, als gehörte das Haus ihnen. Allmählich dämmerte ihm, dass es dort gar nicht so übel war, besonders seit er Schmuel kannte. Ihm war klar, dass es vieles gab, worüber er sich freuen sollte, beispielsweise dass Vater und Mutter jetzt immer gutgelaunt waren und dass Mutter nicht mehr so oft ihre Nachmittagsnickerchen hielt und Sherry aus medizinischen Gründen trank. Und Gretel durchlief gerade eine Phase – sagte Mutter – und ging ihm meist aus dem Weg.
Darüber hinaus war Oberleutnant Kotler aus Aus-Wisch wegversetzt worden und konnte Bruno folglich nicht ständig ärgern und aufregen. (Seine Abreise war ziemlich schnell vonstatten gegangen, und es hatte deswegen abends viel Streit zwischen Vater und Mutter gegeben, aber er war fort, so viel stand fest, und er würde nicht mehr
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