Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
er.
»Wenn du das machst, gibt es Ärger«, entgegnete Gretel, und Bruno merkte, sie meinte es ernst. »Eins würde mich interessieren, Bruno. Was macht deinen eingebildeten Freund so besonders? Womit beschäftigt ihr euch?«
Bruno überlegte. Insgeheim wusste er, dass er gern ein bisschen von Schmuel erzählt hätte und sich jetzt eine Möglichkeit dazu bot, ohne dass er Gretel die Wahrheit über seine tatsächliche Existenz sagen musste.
»Wir reden über alles Mögliche«, sagte er zu Gretel. »Ich erzähle ihm von unserem Haus in Berlin, von den vielen anderen Häusern und Straßen, von den Obst- und Gemüseständen und Cafés, und dass man am Samstagnachmittag nicht in die Stadt gehen sollte, wenn man nicht von Pontius zu Pilatus geschoben werden will. Und ich erzähle ihm von Karl und Daniel und Martin und dass sie meine drei allerbesten Freunde waren.«
»Wie interessant«, sagte Gretel sarkastisch, denn vor kurzem war sie dreizehn geworden und fand, dass Sarkasmus der Gipfel an Reife war. »Und was erzählt er dir?«
»Er erzählt mir von seiner Familie und dem Uhrengeschäft, über dem er früher gewohnt hat, und wie abenteuerlich es war, hierherzukommen. Er erzählt von seinen früheren Freunden und den Leuten, die er hier kennt, von den Jungen, mit denen er immer gespielt hat, es jetzt aber nicht mehr kann, weil sie einfach verschwunden sind, ohne sich von ihm zu verabschieden.«
»Klingt ja irrsinnig lustig«, sagte Gretel. »Wenn er doch bloß mein eingebildeter Freund wäre.«
»Und gestern hat er mir erzählt, dass sein Großvater seit Tagen verschwunden ist und niemand weiß, wo er ist, und immer wenn er seinen Vater nach ihm fragt, fängt der zu weinen an und umarmt ihn so fest, dass er Angst hat, er könnte ihn erdrücken.«
Als Bruno den Satz beendete, merkte er, dass seine Stimme ganz leise geworden war. Schmuel hatte ihm das alles tatsächlich erzählt, doch aus irgendeinem Grund hatte er gestern nicht richtig begriffen, wie traurig sein Freund darüber gewesen sein musste. Als er jetzt alles wiederholte, fand er es schlimm, dass er nichts Aufmunterndes zu Schmuel gesagt, sondern mit etwas Albernem wie neue Orte erforschen angefangen hatte. Dafür muss ich mich morgen entschuldigen , nahm er sich vor.
»Wenn Vater wüsste, dass du mit eingebildeten Freunden redest, wärst du geliefert«, sagte Gretel. »Ich finde, du solltest damit aufhören.«
»Warum?«, fragte Bruno.
»Weil es nicht gesund ist«, sagte sie. »Es ist das erste Anzeichen für Wahnsinn.«
Bruno nickte. »Ich glaube, ich kann nicht aufhören«, sagte er nach einer langen Pause. »Ich glaube, ich will es auch gar nicht.«
»Trotzdem«, sagte Gretel, die mit jeder Sekunde freundlicher wurde. »Ich an deiner Stelle würde es für mich behalten.«
»Ja«, sagte Bruno und bemühte sich, traurig auszusehen. »Wahrscheinlich hast du recht. Du verrätst es keinem, abgemacht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Außer meinem eingebildeten Freund.«
Bruno hielt den Atem an. »Hast du einen?«, fragte er und stellte sich vor, wie Gretel sich an einem anderen Teil des Zauns mit einem Mädchen in ihrem Alter unterhielt und die beiden stundenlang sarkastisch daherredeten.
»Nein«, sagte sie und lachte. »Ich bin dreizehn, Himmel nochmal! Ich kann mir nicht erlauben, mich wie ein Kind aufzuführen, im Gegensatz zu dir.«
Mit diesen Worten stolzierte sie aus dem Zimmer, und Bruno hörte, wie sie im Zimmer auf der anderen Flurseite ihre Puppen ausschimpfte, weil sie ihnen nur den Rücken zukehren musste, und schon geriet alles durcheinander und ihr blieb nichts anderes übrig, als sie neu zu ordnen, und ob sie sich vielleicht einbildeten, dass sie nichts Besseres zu tun hatte?
»Leute gibt's!«, sagte sie laut, ehe sie sich an die Arbeit machte.
Bruno versuchte weiterzulesen, aber fürs Erste hatte er das Interesse verloren. Er starrte in den Regen hinaus und fragte sich, ob Schmuel, wo immer er war, auch an ihn dachte und ob ihm ihre Unterhaltungen genauso sehr fehlten wie ihm.
Kapitel fünfzehn
Ein Fehler
Mehrere Wochen lang regnete es immer wieder, und so konnten Bruno und Schmuel sich nicht so oft treffen, wie es ihnen lieb gewesen wäre. Und wenn sie sich sahen, stellte Bruno besorgt fest, dass sein Freund von Tag zu Tag noch dünner zu werden schien und sein Gesicht immer grauer wurde. Manchmal nahm er mehr Brot und Käse für Schmuel mit, und gelegentlich gelang es ihm sogar, ein Stück Schokoladenkuchen in seiner
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