Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
Zaun kam, saß niemand im Schneidersitz auf dem Boden. Er wartete zehn Minuten und wollte gerade wieder umkehren, äußerst besorgt, dass er Aus-Wisch verlassen würde, ohne seinen Freund wiederzusehen, als ein Punkt in der Ferne ein Fleck, dann ein Klacks, dann ein Schemen und schließlich der Junge im gestreiften Pyjama wurde.
Bruno musste grinsen, als er die Gestalt auf sich zukommen sah. Er setzte sich auf den Boden und holte aus seiner Tasche das Stück Brot und den Apfel, die er für Schmuel aus der Küche geschmuggelt hatte. Doch schon aus der Ferne konnte er sehen, dass sein Freund noch trauriger aussah als sonst, und als er den Zaun erreichte, griff er nicht mit der üblichen Gier nach dem Essen.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte Bruno. »Ich war gestern und vorgestern hier, aber du bist nicht gekommen.«
»Tut mir leid«, sagte Schmuel. »Aber es ist etwas passiert.«
Bruno sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte zu erraten, worum es sich handeln könnte. Er überlegte, ob man Schmuel vielleicht gesagt hatte, dass er auch nach Hause gehen durfte. Solche Zufälle gab es, genau wie die Tatsache, dass Bruno und Schmuel am gleichen Tag geboren waren.
»Und?«, fragte Bruno. »Was ist passiert?«
»Papa«, sagte Schmuel. »Wir können ihn nicht finden.«
»Nicht finden? Das ist wirklich komisch. Du meinst, er ist verlorengegangen?«
»So ähnlich«, sagte Schmuel. »Am Montag war er noch da, dann ging er mit ein paar anderen Männern zum Arbeitsdienst, und keiner von ihnen ist zurückgekommen.«
»Hat er dir keinen Brief geschrieben?«, fragte Bruno. »Oder eine Nachricht hinterlassen, wann er zurückkommt?«
»Nein«, erwiderte Schmuel.
»Wirklich merkwürdig«, sagte Bruno. »Hast du ihn gesucht?«, fragte er nach einer Weile.
»Natürlich«, sagte Schmuel seufzend. »Ich habe gemacht, wovon du immer redest. Geforscht.«
»Und du hast keine Spur gefunden?«
»Nein.«
»Das ist sehr seltsam«, sagte Bruno. »Aber ich bin sicher, dafür gibt es eine einfache Erklärung.«
»Und die wäre?«, fragte Schmuel.
»Ich nehme an, die Männer wurden zur Arbeit in eine andere Stadt gebracht und müssen dort ein paar Tage bleiben, bis die Arbeit fertig ist. Und die Post hier ist ohnehin nicht gut. Ich bin sicher, er taucht bald wieder auf.«
»Hoffentlich«, sagte Schmuel, der aussah, als würde er gleich weinen. »Ich weiß nicht, wie wir ohne ihn zurechtkommen sollen.«
»Ich könnte Vater fragen, wenn du willst«, schlug Bruno vorsichtig vor und hoffte insgeheim, dass Schmuel nicht ja sagen würde.
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee«, erwiderte Schmuel, was zu Brunos Enttäuschung keine eindeutige Ablehnung seines Angebots war.
»Warum nicht?«, fragte er. »Vater weiß viel über das Leben auf der anderen Zaunseite.«
»Ich glaube, die Soldaten mögen uns nicht«, sagte Schmuel. »Das heißt«, setzte er mit einem bitteren Lachen hinzu, »ich weiß genau , dass sie uns nicht mögen. Sie hassen uns.«
Bruno setzte sich überrascht zurück. »Ich bin sicher, dass sie euch nicht hassen«, sagte er.
»Doch«, widersprach Schmuel und beugte sich vor. Seine Augen waren schmale Schlitze und seine Lippen wölbten sich vor Wut ein wenig nach oben. »Aber das macht nichts, denn ich hasse sie auch. Und wie ich sie hasse«, wiederholte er mit Nachdruck.
»Aber du hasst doch nicht Vater, oder?«, fragte Bruno.
Schmuel biss sich auf die Lippe und schwieg. Er hatte Brunos Vater bei zig Gelegenheiten erlebt und konnte nicht begreifen, dass so ein Mann einen Sohn hatte, der einfühlsam und gut war.
»Übrigens«, sagte Bruno nach einer angemessenen Pause, da er das Thema nicht weiter vertiefen wollte. »Ich muss dir auch etwas erzählen.«
»Wirklich?«, fragte Schmuel und sah hoffnungsvoll auf.
»Ja. Ich gehe wieder nach Berlin zurück.«
Schmuel klappte vor Staunen der Unterkiefer runter. »Wann?«, fragte er, und seine Stimme zitterte dabei leicht.
»Also, heute ist Donnerstag«, sagte Bruno. »Und wir fahren am Samstag. Nach dem Mittagessen.«
»Und für wie lange?«, fragte Schmuel.
»Ich glaube, für immer«, erwiderte Bruno. »Mutter gefällt es nicht in Aus-Wisch – sie sagt, das ist kein Ort, um zwei Kinder großzuziehen. Vater bleibt hier und arbeitet weiter, weil der Furor noch Großes mit ihm vorhat, aber der Rest von uns fährt nach Hause.«
Er sagte nach Hause , obwohl er nicht mehr so genau wusste, wo sein Zuhause eigentlich war.
»Dann sehe ich
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