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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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Es ist ein abgelegener Ort, vierzig Minuten per Boot vom nächsten Jachthafen entfernt, umgeben nur von anderen Hüttenbewohnern auf anderen Inseln und nur übers Wasser erreichbar. Wenn der Wind abflaute, war es so still, dass ich mir Sorgen machte, die anderen könnten Walkers Weinen oder gar mein Rufen hören. Aber die Stille veränderte ihn, dort oben verwandelte er sich, wurde selbstsicherer, war weniger abgelenkt. Manchmal sah er auf die orangen Sonnenuntergänge am Ende eines schönen Tages hinaus, als könnte er etwas sehen, tausend Meilen über das Wasser der Bucht hinweg entfernt – der weite Blick. Er kannte jedenfalls diesen Ort, wusste, wie er sich anfühlte, selbst wenn er nicht genau wusste, wo er sich befand oder es nicht zeigen konnte. Wir haben ein Foto von ihm dort, in Olgas Armen, das einzige Mal, dass sie in sieben Sommern mit dorthin gekommen war (es war der einzige Ort, an den sie nicht fahren wollte: Sie hasste Schlangen, und auf der Insel gab es Klapperschlangen), sein merkwürdiges Haarbüschel ist golden im Licht der untergehenden Sonne: »Das göttliche Kind« nannte Johanna das Foto, und so sah er auch aus. Es war der erste Ort, an dem ich mir vorstellen konnte, dass Walker ein Innenleben hatte, ein Leben, das von dem Rest von uns getrennt stattfand. Und dort war es auch, eines Nachmittags, als alle nach einem Tag des Schwimmens – die kanadische Version des Paradieses – ein Nickerchen machten, dass Johanna einen Schnappschuss von ihm auf der hellblauen Couch im Wohnzimmer machte, während die Nachmittagssonne durch die Panoramafenster leuchtet:

    Er sieht absolut normal aus, seinem Vater als Kind und ebenso seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten. Vielleicht mag ich es deshalb so: Es ist der Beweis für unser Band. Ich sehe seine schlanken Schenkel, seine Bräune – er ist gebräunt! Er hat seinen Kopf auf seine Hände gelegt und seine Knie angezogen, er trägt ein Paar karierte Shorts (Hayleys abgelegte) und ein blaues Sweatshirt. Es kommt einem Bild von dem, was vielleicht möglich gewesen wäre, vielleicht am nächsten. Es kommt einem sogar ein ganz bisschen unehrlich vor.
    Auf meinem Lieblingsbild von allen ist er sechs. Da war er gerade auf eine neue Schule gekommen und richtig aufgeblüht. Die Beverly Junior Public School war zehn Minuten mit dem Auto von uns entfernt und lag gleich neben dem winzigen Büro, das ich zu der Zeit hatte: Ich konnte mich draußen hinstellen und über den Zaun zu ihm hinüber sehen, wie er auf dem Spielplatz schaukelte. Es war eine wunderbare Schule, groß und offen, mit Dachfenstern und niedrigen Fenstern ausgestattet für die Kinder, die die meiste Zeit am Tag auf dem Rücken verbrachten. Es gab viel Platz.

    Der Schnappschuss wurde aufgenommen gleich nachdem er dort angefangen hatte. Walker steht im Wintergarten in unserem Haus und blickt aufmerksam auf meine alte manuelle Schreibmaschine. Seine Hände und Finger sind über die Tastatur gebreitet. Natürlich war es das Gefühl der Tasten an seinen juckenden Händen, das ihn angezogen hatte, die Nachgiebigkeit der Tasten, das Gefühl, sie bewegen zu können. Aber er schaut, als würde er Fortschritte machen, eine Illusion, die bei Leuten, die ihren Lebensunterhalt als Schriftsteller verdienen, nicht ungewöhnlich ist. Er trägt ein rot kariertes Hemd, das ich ihm gegeben habe, und er ist bereit loszutippen, hat eine Menge zu sagen und das Glitzern von jemandem, der darauf brennt, es auch zu tun. Vielleicht hat er schon so oft seine Eltern auf diese Weise über die Tasten gebeugt gesehen. Es ist ein bezauberndes Bild: Wer weiß, vielleicht ist das, was es zeigt, tiefe Neugier, ein Moment der Klarheit in seinem eingenebelten Kopf. So etwas Ähnliches denke ich – bis der Zauber verfliegt und es um meine Augen herum zu schmerzen beginnt und ich das Foto nicht länger ansehen kann. Jeder Augenblick der Freude mit ihm ist genau so, am Ende tief drinnen immer belastet mit bleierner Trauer, der Erinnerung daran, dass – ach, was soll’s. Man muss ja nicht gleich wieder ans Eingemachte gehen. Aber ich muss die Bilder von ihm jetzt weg legen, länger kann ich sie einfach nicht ertragen. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis ich diese Fantasien begraben konnte, ich darf sie nicht wieder hochkommen lassen.

    In den schlechten Phasen mussten meine Frau und ich zwei oder drei Mal in der Woche mit ihm ins Krankenhaus. Entzündungen der Ohren, Erkältungen, bei denen ihm die Luft wegblieb, dauernde

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