Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
sein, wenn er mich ließ. Sein lockiges Haar an der Unterseite meines Kinns, während wir zusammen im Boot dahin trieben.
Am Abend, nach dem Abendessen, wenn wir auf der geschützten Veranda saßen, gesellte sich Walker wieder zu uns. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, wie bewusst er jeden Einzelnen besuchte: Er kletterte auf Cathrins Schoß, legte ihr den Kopf an die Schulter, dann kletterte er wieder herunter, um Teccas Silberarmreif zu betatschen (sie war es, die ihm den Spitznamen »der Juwelier« verlieh), von dort zog er weiter zu Al, zu John, zu mir, zu seiner Mama, seiner Schwester, ihren Freundinnen, seiner Welt. Er machte seine Runden. Dann glitt er zurück zu Olga oder lief an den Lichtern und Lauten aus der Stereoanlage vorbei oder öffnete die Verandatür zum Abend draußen. Ich stelle mir vor – das ist der einzige Ausdruck, den ich dafür verwenden kann –, dass er uns wissen lassen wollte, dass er uns liebte. Seine erwachsenen Freunde blicken inzwischen auf diese Tage zurück als auf eine einzigartige, unmögliche Reise, die wir alle zusammen unternommen haben. »Diese Sommer waren eine ganz außergewöhnliche Zeit«, sagte einer von ihnen neulich zu mir, »obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich damals wusste, wie außergewöhnlich sie waren.«
Den Rest der Zeit las ich, redete, schwamm und kochte. Und trank: Ich trank oft ordentlich Gin, wenn es nicht meine Nacht mit ihm war, wegen des augenblicklichen Abhebens. (Ich hatte keine Zeit zu verlieren.) Jede freie Minute fühlte sich wie ein Juwel an, und doch traf sie mich auch wie ein Tadel: Nicht weil ich unverantwortlich war, sondern weil seine Bedürftigkeit nie nachließ. Wir versuchten mit aller Macht, uns so viel wie möglich in der Zeit, die wir hatten, zu entspannen. Es war erst dreißig Jahre her, dass ein Kind wie Walker vielleicht gar nicht überlebt hätte, und seine Krankheit war immer noch ein Rätsel, für die Medizin genauso wie für uns: Wie konnte ich mich da nicht fragen, was ich mit ihm vielleicht unternehmen sollte? Johanna und ich wechselten uns in den Nächten im Wochenendhaus ebenfalls ab, einer schlief mit Walker in einem winzigen Schlafzimmer im Erdgeschoss des Haupthauses, während der andere den Luxus einer Nacht ganz allein in einer der Schlafhütten am Wasser genoss – es stand ihm frei, lange aufzubleiben, noch etwas zu trinken, für einen Augenblick das zu leben, was sich wie ein exotisches Leben anfühlte. Züge, die irgendwo am anderen Ufer pfeifend vorbeirauschten.
Am Morgen nach einer schlimmen Nacht mit Walker – ich hatte die quälende Theorie entwickelt, dass es mit mir nie gut ging, weil er jede zweite Nacht mit seiner Mutter wie ein Murmeltier schlief – nachdem er schließlich doch noch eingeschlafen war, oder vielleicht um zehn Uhr morgens, nachdem Olga aus ihrer Hütte gekommen war, um ihn zu übernehmen, stolperte ich den Pfad zum See hinunter. Ich kann immer noch meine langbeinige Frau in jenen Tagen vor mir sehen: Sie hat sich bereits am Wasser hingestreckt, bräunt sich gierig und liest. Ich war glücklich für sie und wütend auf sie und erschöpft, aber gleichzeitig spürte ich den immergleichen Stich: Wo war der Junge? (Wir nannten ihn »den Jungen«.) Warum war sie nicht bei ihm? Warum ich nicht? Die Ermahnungen drehten sich im Kreise, unablässig bewegten sie sich in unserem Inneren.
1 Am gleichen Morgen brachte die New York Times auf ihrer ersten Seite einen Bericht »Für die Familien der Kranken eine Chance zur Erholung«. In dem Stück ging es um Ehepaare, die sich um ihre kranken und alten Eltern kümmern und zeitweilige Erholung suchen. Beinahe 10 Millionen Nordamerikaner kümmern sich um jemanden mit Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz. Die Folgen für jemanden, der sich um Menschen mit solch schweren Einschränkungen kümmerte, waren, so der Bericht, gravierend: Depressionen, erhöhter Blutdruck, Diabetes, Schlafstörungen, Herzkrankheiten und »Tod«. Für Preise von 120 Dollar bis 200 Dollar pro Tag konnten erwachsene Kinder (die meisten waren in ihren Fünfzigern) ihre kränkelnden Eltern der Obhut einer Pflegeeinrichtung überlassen. Die in der Geschichte zitierten Sprösslinge sprachen von diesen Urlaubsunterbrechungen wie von wahren Wundern, obwohl sie alle auch zugaben, Schuldgefühle zu empfinden, weil sie diesen Dienst in Anspruch genommen hatten. »Was für eine Tochter bin ich, wenn ich sie für vier Tage verlasse?«, bemerkte eine der interviewten Frauen.
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