Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
und wer nicht. Es war zumeist der immergleiche Streit. Er geht so: Mitten in der Nacht, obwohl Johanna mit Walker dran ist – und es könnte genauso gut andersherum sein –, kann ich nicht schlafen und gehe nach unten ins Wohnzimmer, um zu lesen. Fünf Minuten später höre ich Johanna: »Nein, Walker, nein!« Eine Minute später taucht sie am Fuß der Treppe auf – nackt, ihre Haut ist noch leicht gebräunt (selbst im Januar), und erschöpft. Walker ist seit drei Stunden wach, hat ihr gerade einen Kopfstoß versetzt und ist in Gelächter ausgebrochen. »Kannst du ihn nehmen?«
Ich seufze (ein Fehler) und sage (noch ein Fehler): »Ich hatte ihn schon gestern drei Stunden am Stück mitten in der Nacht.«
»Vergiss es.« Sie marschiert davon. »Kümmere dich nicht drum! Entschuldige, dass ich überhaupt gefragt habe!«
Ich folge ihr die Treppe hoch, geschlagen.
Ich gehe an ihr vorbei, erreiche Walkers Zimmer zuerst und lege mich zu ihm. Aber inzwischen ist meine arme Frau so müde, dass sie sich weigert, es dabei zu belassen. Sie schreit, ich schreie, ich schließe die Tür. Sie kommt wieder herein, also schiebe ich sie wieder heraus, schließe die Tür erneut und stelle meinen Fuß davor. Ich verhalte mich nicht völlig rational. Als ich die Tür wieder öffne, kann ich Hayley hören, in unserem Schlafzimmer (das endlose Betten-»Reise nach Jerusalem« um dem Jungen entgegenzukommen), die fragt, was los ist. Ich beginne, mich wieder und wieder bei ihrer Mutter zu entschuldigen. Es ist nicht wirklich ernst gemeint, aber manchmal bei diesen explosiven Streitigkeiten klappt es.
Aber es gibt auch andere Zeiten – Augenblicke unbezwingbarer Freude. Wir vier zusammen im Bett an einem Samstagmorgen, Walker auf den Knien, der sich einmal über uns alle erhebt. Das ist wirklich etwas, verstehen Sie: Jedes Mal, wenn er glücklich ist, ist er so glücklich, wie nur er es sein kann. Hayley, eine zarte und geschickte Balletttänzerin, dreht sich mit Walker zur Musik von der Hifi-Anlage, und Walker ist außer sich vor Freude. Minuten aus seinem Leben. Für ein normales Kind alltägliche Ereignisse. Aber ich kenne ihren wahren Wert.
Kurz bevor Walker zwei wurde, hörten wir von einer CFC -Studie, die am berühmten Kinderkrankenhaus von Philadelphia durchgeführt wurde. Wir fuhren zehn Stunden, um dorthin zu kommen. Am Ende eines Tages voller Untersuchungen trafen wir schließlich auf einen Arzt, der uns etwas sagte, was wir noch nicht wussten. Sein Name war Dr. Paul Wang, und er war Spezialist für Entwicklungsstörungen.
Wang führte eine Reihe von Tests durch. Er war ein schlanker Mann mit einer hohen Stirn und einer leisen Stimme. Er zeigte Walker ein paar Zeichnungen mit einfachen Linien, ein Licht, ein Puzzle, Walker warf sie auf den Boden. Nach einer Stunde war der Arzt fertig. Walker kam zu mir herüber und kletterte auf meinen Schoß.
»Wie Sie wissen«, sagte Wang, »gibt es drei allgemeine Grade der Entwicklungsverzögerung oder Behinderung – leicht, mittelgradig und schwer, manchmal auch umfassend genannt.«
»Welche hat Walker?«, fragte Johanna.
»Wenn Walker sich mit der momentanen Geschwindigkeit weiterentwickelt, dann würde man ihn als Erwachsenen vielleicht als mittelgradig behindert einstufen.«
»Mittelgradig?«, sagte Johanna und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie weinte bereits. (Ich hoffe, ich habe ihre andere Hand gehalten.) »Ich hatte auf eine leichte Behinderung gehofft. Wird er jemals lesen können? Oder … Autofahren?«
»Das bezweifle ich.« Das waren schlechte Nachrichten. Eine mittelgradige Behinderung ist immer eine Katastrophe, und es war auch keine Rede davon, dass es nicht schlimmer werden könnte, wenn er älter wurde. Er würde sein Leben lang Betreuung brauchen, Unterstützung bei seiner Lebensführung. »Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch sehr wenig über Kinder mit dem CFC -Syndrom. Der Arzt schätzte Walkers gesamte Entwicklung als auf dem Stand von zehn Monaten ein. Zehn Monaten. Weniger als die Hälfte seines tatsächlichen Alters. »Wenn er älter wird, werden die Unterschiede natürlich bemerkbarer sein.«
Wang wandte sich an mich. »Haben Sie irgendwelche Fragen?«
»Nur eine. Wir haben zum ersten Mal in diesem Sommer ein Sommerhäuschen gemietet, nördlich von Toronto. Es ist ein sehr abgelegener Ort, sehr still. Eine Insel, niemand da außer uns. Walker scheint das sehr zu mögen. Es verändert ihn, beruhigt ihn. Dieser Ort bedeutet mir sehr viel. Werde ich je
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