Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
»Ich hatte das Gefühl, selbstsüchtig zu sein. Warum brauche ich diese Zeit ohne sie überhaupt?« Oh ja, dieses Gefühl kannte ich.
Fünf
ES WAR BEINAHE unmöglich, ein gutes Foto von Walker zu machen. Der Trick war, auf den entscheidenden Moment zu warten, in dem mindestens drei Dinge gleichzeitig geschahen: Den Moment, in dem er ruhig war und sein Körper sich organisiert und entspannt fühlte, den Moment, wenn seine inneren Kämpfe nachließen und er sich nicht selbst schlug, und den Moment, wenn er aufmerksam und energiegeladen war. Solche Momente gab es nicht oft. Wenn es aber doch geschah und man zufällig eine Kamera dabei hatte und es einem gelang, ein Foto zu machen, bevor dieser Moment sich wieder verflüchtigte, dann erhielt man vielleicht ein Bild, das man gern betrachtete und von dem man sich nicht abwenden musste. Das waren unsere echten Schätze, der Beweis für den Walker, von dem wir überzeugt waren, dass er unter seiner Hektik und seinen Qualen auch existierte.
Das erste Mal, als das passierte, war er beinahe drei Jahre alt, und er saß in der Badewanne. An jenem Punkt in seinem Leben war seine Ruhe im Badewasser beinahe biblisch. Das alte hebräische Maß für ein Bad waren 33 Liter: Das war ungefähr genau richtig für Walker, bis die Wärme seine Brust erreichte, woraufhin er wieder nervös wurde. Der Trick war, in der genauen bemessenen Zone zu bleiben, in der er sich wohlfühlte.
Das erste gute Foto war reines Glück und aufgenommen, als er aufsah, nachdem er endlos ein Spielzeug in seinen Händen gedreht und gewendet hatte. Ich hatte sinkende U-Boote, spritzende Wale und schwimmende Frösche gekauft, aber er mochte die Messbecher und Siebe, durch die das Wasser tropft. Er mochte die Geräusche, die sie machten.
Die ersten Aufnahmen, die Johanna uneingeschränkt mochte, wurden aufgenommen, als er sieben Jahre alt war. Sieben Jahre der Versuche, Walker in einer Pose aufzunehmen, die sie gern betrachtete.
Es war ein heißer Tag im Sommer, und Walker, wie es an heißen Tagen üblich war, trug kaum mehr als ein Hemd und eine Windel. Er lag auf dem Rücken auf der Couch im Fernsehzimmer, in einem orangen T-Shirt, und trug eine Sonnenbrille von mir, die ihm Hayley aufgesetzt hatte. Das war an sich schon mutig: Walker hasste Brillen und Sonnenbrillen gleichermaßen und hatte in Nullkommanix die Bügel zerbrochen und die Gläser zerstört. Johanna hatte erst kürzlich Robert Evans, den verstorbenen Filmproduzenten, interviewt. Damals war Evans in seinen Siebzigern, aber er personifizierte immer noch den typischen Hollywood-Mogul der sechziger Jahre – gefärbte Sonnenbrille, Halstuch, in jedem Arm ein Starlet, eine Stimme, die unter all dem Rauch und dem Geld schwer gelitten zu haben schien. Nichts brachte Evans aus der Fassung, nichts war ihm peinlich. Sobald sie die Aufnahmen von Walker sah, begann Johanna ihn Walker Evans zu nennen und heftete sie an den Küchenschrank, als Erinnerung an seinen Charme. Das war sein Nichts bringt den Boogle aus der Fassung -Ausdruck. Ich stellte mir vor, dass er über Nathalie Wood nachsann. Wenn ich mir das Foto jetzt angucke, dann erinnere ich mich an den Gesang, den er damals anstimmte (inzwischen macht er es nicht mehr), ein wiederkehrendes rah-rah-rah-rah-rah-rah , das ganz klar seine Art war, eine Geschichte zu erzählen, wenn er die Aufmerksamkeit erregt hatte. Er hätte gerade am Telefon sein können, um jemanden zu einem ganz offensichtlichen Deal zu überreden. Man sollte ihn jedenfalls auf gar keinen Fall hierbei unterbrechen. Er hatte keine Worte, aber er sorgte für Ruhe.
Es ist in jedem Fall eine wunderbare Serie von Aufnahmen von jenem heißen Tag im Fernsehzimmer: Schon das nächste Foto in der Serie beschwor nicht Evans, sondern den Komiker Drew Carey herauf, der seither die Rolle von Bob Barker als Moderator von The Price Is Right übernommen hat. Evans und Carey – zwei Männer, die anscheinend mehr als willens waren, eine Rolle zu spielen, ja sich selbst zu erniedrigen, um im Showgeschäft mitmischen zu können.
In der Carey-Aufnahme sieht er vorsichtiger aus, selbstsicher, aber wachsam, horcht auf irgendeine Albernheit aus dem Kopfhörer. Eine ganz normale Fotografie machte es möglich, sich vorzustellen, dass auch er ganz normal war.
Meine Lieblingsfotos sind die von seinen eher intimen Momenten. Als er kaum ein Jahr alt war, mieteten wir ein Häuschen auf einer Insel in der Georgian Bay, ein paar Stunden nördlich von Toronto.
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