Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
fand. Ich wusste, was ich zu sehen bekäme, wenn ich dort durch die Flure lief – die Kinder selbst mit ihren seltsamen Gebrechen, Köpfen so groß wie Wassermelonen, mit leuchtend roten, frisch genähten Schnitten von einer Operation, die von einem Ohr zum anderen verliefen, mit Stützverbänden und Gips, gräulich-gelber Haut, den resignierten Blicken, einer Resignation, die tiefer reichte und umfassender war, als die eines Erwachsenen jemals sein könnte.
Ich wusste, wie ich darauf zu reagieren hatte. Ich wusste, dass ich lächeln musste. Jeden einzelnen anlächeln. Nicht zu offenkundig, ich wusste, wie es war, wenn jemand auf Walkers sämtliche Launen einging. Diese Art Behandlung wollte ich nicht. Aber eine Art Offenheit, fehlende Feindseligkeit und Angst trotz alledem, das war der Trick. Es war eine Form der Medizin. Aber immer schaute ich auch genau und fragte mich im Stillen: Was passierte da?
In gewisser Hinsicht war die Notaufnahme, trotz der ganzen Anspannung, auch wieder einfach – weil in dieser Abteilung auch eine Art Gelassenheit herrschte, eine Direktheit, eine auf Fakten gründende Ruhe, die der Panik entbehrte. Denn hier in der Notaufnahme ist diese Art Besorgnis fehl am Platz: Man ist ja schon im Rachen des Ganzen, schlimmer kann es nicht mehr kommen, da muss man jetzt durch. Ich kannte Ärzte, die heimlich zugaben, dass sie die Arbeit in der Notaufnahme eigentlich genossen: Sie waren einfach zu beschäftigt, um darüber nachzudenken, wie traurig das alles eigentlich war. Ihre Arbeit ist absolut unreflektiert und befreiend insofern, dass sie sich ganz ohne jegliches Nachgrübeln vollzieht.
Man kann als Elternteil für lange Zeit in dieser Ruhe da sitzen und warten, ohne dass es einen stört. Man kann sich umsehen. Die Technik, überall, auf Wägen, eine ganze Wissenschaft auf Rädern, die sich aber auch an den Kopfenden der Betten Zimmer um Zimmer wiederholt, die gleichen sauberen neuen Schläuche und Flaschen und Ventile wieder und wieder, weil unsere individuellen Schwächen letztlich natürlich alle gleich sind. Zahllose feste gelbe Abfallbeutel aus Plastik, für toxisches Blut und verbrauchte Kanülen, eine ganze Industrie (sichere Entsorgung!), Geld, das verdient werden kann mit dem Abfall vom Trauma unseres Körpers. Die Gerüche: Antiseptikum, Kaffee, Kotze, Muffins, frische Laken, Scheiße, Sorge, Angst, Trauer. Der letzte ist der schlimmste: ein trockener Geruch, wie muffiger Boden, wie heißes Pflaster. Und das Händewaschen, wieder und wieder, der Schwall Desinfektionsmittel, das wie Frischhaltefolie klingende Geräusch zweier Hände, die sich irgendeinen Glibber auftragen, das heilige Ritual der Vorsichtsmaßnahmen. Chöre aus Weinen. Klappernde Tragbahren. Krankenwagenfahrer, die mit Opfern kleine Scherze machen. Vorhänge, die unvorstellbare Verzweiflung verbergen. Die Frage: Ist es heilbar? Können sie meine Angst erkennen? Und der unvermeidliche Vergleich: Ist mein Kind besser dran als jenes Kind da?
Und bei all dem hält man sein Kind im Arm, hält es mit seinem Körper und seiner Hitze dicht an sich gepresst, wie eine Feuerhaut, weil man sich an das Leben, das da ist, klammern muss. Der Zwang essen zu müssen, treibt uns voran, Sex macht uns schamlos, aber unser wahrer Hunger zielt auf Berührung. Halt einfach fest. Halt einfach fest. Halt einfach fest. Halt einfach fest.
Und allmählich, ohne dass man es recht bemerkt, ändert sich etwas, und man muss gar nicht mehr so fest zupacken, oder es ist sonst gar nichts mehr da, was man festhalten könnte. Die Krise geht vorüber, oder sie löst sich. Alles bleibt unaussprechlich, und doch ist es später geradezu unmöglich, nicht bis zum Erbrechen darüber zu reden.
Wenn wir Glück haben, lassen sie uns beide wieder gehen. Das befreiendste Gefühl von allen, wenn man schließlich am frühen Morgen das Krankenhaus verlässt, bevor die Sonne noch ganz aufgegangen ist, der Bürgersteig ist noch feucht vom Tau, das Kind ist, jedenfalls im Moment, wieder in Sicherheit. Die Art, wie die Welt noch einmal von vorn zu beginnen scheint. Wenn man schließlich wieder bei seinem Auto ist – auf Ebene zwei, in der Nähe des nördlichen Fahrstuhls, macht man schon wieder Pläne.
Während all dieser Jahre und im Halbschlaf stritten meine Frau und ich uns oft. Wie die meisten CFC -Eltern stritten wir uns häufiger wegen unseres Schlafs als über irgendetwas anderes: Wer wann hatte schlafen können und wer nicht, wer es verdiente auszuschlafen
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