Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Glauben erschüttert, und was sie dachte, war wichtig. Segolène hatte die schützenden Mauern der Kirche verlassen, um sich der Außenwelt anzuschließen, wegen einer jungen Frau, die sich weder bewegen noch sprechen konnte.
»Das erste Mal, dass ich jemanden mit einer Behinderung kennen lernte«, fuhr sie fort, »war in einem psychiatrischen Krankenhaus. Und es war jemand sehr Zerbrechliches. Und das rief eine Zärtlichkeit in mir hervor, die mich überraschte, die durch diese Person in mir aufkam. Und ich interpretiere diese Zärtlichkeit, die so gewaltig war, als etwas, das durch irgendetwas in mich gelangt ist, das größer ist als ich selbst. Und deshalb bleibe ich hier, wegen diesem Moment, dieser Zärtlichkeit. Isabelle braucht das. Und deshalb ist sie hier. Sie war es, die mir den Unterschied gezeigt hat zwischen uns, die wir wählen können, und einem Menschen, der nicht wählen kann. Ich glaube, für mich ist sie eine Art Heilige. Isabelle lehrt uns, wir selbst zu sein, weil Isabelle nur sie selbst ist. Und sie hat ihren Frieden mit sich selbst geschlossen.«
Als Zeitungsreporter verbringe ich die meiste Zeit meines Lebens damit, mit Leuten zu sprechen, die irgendwie meine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch genommen haben. Ab und zu stellt sich dieser Anspruch als berechtigt heraus, und in solchen Momenten umgibt das Gespräch eine Stille, und ich habe keinen anderen Wunsch, als genau dort zu sein, wo ich bin, in der Gesellschaft der Person, mit der ich spreche. Das Bemerkenswerte über jenes Haus in Verdun war, dass sich diese Ruhe an einem einzigen Abend wieder und wieder auf mich herabsenkte. Lange Zeit wollte ich gar nicht wieder gehen.
Aber schließlich musste ich aufbrechen, und Jean-Louis und ich verabschiedeten uns voneinander. Draußen schneite es wieder in den Straßen von Verdun und bedeckte die Schaufelei des Tages. Ich konnte nicht vergessen, was Segolène gesagt hatte. Ich dachte immer wieder: Konnte Walker für jemanden so eine Isabelle sein? Konnte er meine sein? Walker war er selbst, er hatte keine Wahl. Wenn ich ihn der Junge sein lassen konnte, der er war, und den Jungen ziehen lassen konnte, der er hätte gewesen sein können – vielleicht konnte ich dann das Gleiche tun.
Wilde Gedanken nachts im Schnee.
Sechs Wochen später sah ich in Cuise-la-Motte, einem Dorf neunzig Kilometer nordöstlich von Paris, eine noch genauere Version einer möglichen Zukunft für Walker.
Cuise-la-Motte ist eins von vier Dörfern mit L’Arche-Gemeinschaften, die einen festen Kern in der Picardie formen – Pierrefonds, Trosly-Breuil und Compiègne, das groß genug ist, um eine Universität zu beherbergen, sind die drei anderen. Ein 36 000 Hektar-Waldgebiet – eins von Frankreichs berühmten Jagdgebieten, ein früherer Wald des Königs – befindet sich in der Mitte. Jeanne d’Arc versteckte sich in diesem Wald vor ihrer Gefangennahme in Compiègne 1430. Es ist der gleiche Wald, in dem Marschall Ferdinand Foch für die Alliierten am 11. November 1918 einen Waffenstillstand mit den Deutschen unterzeichnete und wo, zweiundzwanzig Jahre später, Adolf Hitler die Franzosen zwang, formal vor den Nazis zu kapitulieren. Es gibt zwei große Schlösser in dieser Gegend, von denen eins das Schloss in Walt Disneys Dornröschen inspiriert haben soll. Aber keine Tafel für Touristen erwähnt die L’Arche-Gemeinschaften, obwohl die Menschen, die in ihnen leben, die Straßen wie gewöhnliche Bürger bevölkern.
Die meisten schwerer behinderten Bewohner, sowohl geistig wie körperlich, leben in einer Maison d’Acceuil Spécialisé , die La Forestière heißt, in Trosly-Breuil. La Semence – der Samen auf Französisch – wo ich hin verpflanzt wurde, war ein Haus für Menschen, die zumeist nicht sprechen konnten, aber einigermaßen beweglich waren, die ein Bewusstsein hatten und fähig waren, zu registrieren, dass sie ein Bewusstsein hatten, aber nicht in der Lage waren, es allein zu tun. Walker hätte da hinein gepasst, ganz am Ende der Skala. Ich wohnte im Gästezimmer, als Einziger in einem Raum, in dem man vier unterbringen konnte. Draußen vor meinem Fenster erblühte ein Magnolienbaum. Rosmarin und Lavendelbüsche blühten ebenfalls. Es war April.
Ich war an jenem Morgen in Paris gelandet und kurz vor dem Mittagessen in Cuise-la-Motte angekommen. Mein Plan war, ein paar Tage dort zu bleiben, zu sehen, wie L’Arche funktionierte und mit Jean Vanier zu reden. Er war einer der fortschrittlichsten Denker
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