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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
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der Gruppe waren sieben L’Arche-Mitarbeiter, einer für je zwei Bewohner, und das schien zu genügen. Eine der Assistentinnen, eine Frau indianischer Abstammung in ihren Zwanzigern, neigte ihr Gesicht zu dem Gesicht des Mannes mit Down-Syndrom neben ihr hinab und berührte dann seine Stirn mit ihrem Finger. Immer mal wieder erkannte Jean-Louis Munn, mein Gastgeber, jemanden in der Menge und stupste mich an und sagte mir, wer das war. »Als er vor zwanzig Jahren zu uns kam«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf einen hoch gewachsenen, stillen Mann in einem grünen Hemd, »war er so nervös, dass seine Hände immer zu Fäusten geballt waren.« Jetzt schien der Mann damit zufrieden, seine Ängste nur durch ein wenig Lippenlecken zu zerstreuen.
    Dann war auf einmal die Messe wieder vorbei. Leute begannen, sich ihre Kopfbedeckungen aufzusetzen, ein ganzes, erstaunliches Arsenal von klassischen kanadischen Winter-Kopfbedeckungen, Kappen mit gewaltigen Schirmen und Krempen und Ohrklappen und Hauben, die ihre Köpfe zwergenhaft erscheinen ließen.
    Ricky trat zu mir, seinen Arm bei Richard untergehakt, und Richard machte mit seinen Lippen ein Furzgeräusch. »Das ist Richard«, sagte Ricky zu mir. »Er war in meinem Foyer . Wir haben immer zusammen geschlafen.« Er meinte im gleichen Zimmer in ihrem L’Arche-Wohnheim. L’Arche nennt seine Häuser Foyers , nach dem französischen Wort für »Herdstelle.«
    Es war, als wäre man in einem Roman von Balzac oder sogar Hugo voller bizarrer, unvergesslicher Figuren. Zum ersten Mal in meinem Leben umgeben von geistig behinderten Erwachsenen, die ich gerade erst kennen gelernt hatte, stellte ich plötzlich fest, dass ich überhaupt nicht nervös war.
    Meine Ängste kamen wieder hoch, als mich Jean-Louis Munn durch die Straßen von Verdun, im Süden Montreals führte: Wir waren in einem der fünf Häuser, die L’Arche für die Behinderten in dieser Gegend unterhält, zum Abendessen eingeladen. Am vorigen Tag hatte ein gewaltiger Schneesturm die Stadt belagert, und die abendlichen Straßen waren voller Menschen, die ihre Einfahrten frei schaufelten. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir gingen, was mich erwartete und was von mir erwartet wurde. Schließlich hielten wir vor einem adretten, zweistöckigen Haus. Jimmy Davidson nahm uns an der Tür in Empfang – ein stämmiger Kerl mit roten Haaren und dem Down-Syndrom. Er trug seinen Pyjama – blaue Power Rangers-Hosen aus Flanell und ein dazu passendes T-Shirt-Oberteil und Puschen. »Ich bin ja so entspannt«, sagte Jimmy, und dann schüttelte er mir die Hand. Er war fünfundvierzig Jahre alt.
    An der Wand hing ein Bild vom Letzten Abendmahl, die Sorte von Sinnbild, bei dem sofort meine Alarmglocken läuten, außerdem ein Schwarzes Brett, gelbe Schränke, Pflanzen – es war ein bewohntes Haus. Zusätzlich zu den drei Assistenten (Pflegepersonal in den L’Arche-Heimen wird immer »Assistenten« genannt) und Jimmy nahmen noch vier weitere Bewohner (wie man die Behinderten hier nennt) das Abendessen mit uns am Küchentisch aus Kiefernholz ein: Marc, ein Mann mittleren Alters, der viel lächelte, aber nichts sagte, Sylvie, die auch nicht sprach, Jadwega, eine Frau in den Sechzigern, die das Essen gekocht hatte und die Zahlen im Gedächtnis behalten konnte, aber kaum Gesichter, und Isabelle, eine ruhige, junge Frau im Rollstuhl mit etwas, das ganz eindeutig eine Form zerebraler Lähmung war. Isabelle saß am Ende des Tisches. Sie konnte weder die Arme noch die Beine bewegen oder ihre Kopfhaltung ändern oder sprechen – aber sie folgte allem, einschließlich der Konversation, mit ihren Blicken und lächelte oft liebenswert über das, was gerade vor sich ging.
    Eine Welle der Beklemmung stieg in mir auf, aber ich konnte nicht lange darüber nachdenken, denn Jimmy, der neben mir saß – ich hatte den Ehrenplatz am Kopfende –, traktierte mich mit Fragen darüber, welchen Power Ranger ich mochte und welchen nicht, und ich traktierte ihn umgekehrt auch mit Fragen. Ich fragte ihn, wie lange er schon in diesem Haus wohnte.
    »Zwei Jahre im Haus«, sagte er.
    »Wo hast du vorher gewohnt?«
    Jimmy konnte sich nicht daran erinnern. »Bei, ahm.« Und dann: »Bei meiner Mutter.« Seine Mutter kam jede Woche zu Besuch. Er wurde ernst, wenn er über sie sprach.
    Wir bahnten uns gerade unseren Weg durch verschiedene Details seines Lebens – Jimmy war ein Fan der Toronto Maple Leafs, was man in Montreal auch für eine Behinderung hält – als

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