Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Brown
Vom Netzwerk:
der Welt, was das Thema Behinderung anbelangte, und ich wollte wissen, was seiner Meinung nach ein befriedigendes, anständiges, richtiges Leben für Walker umfassen würde. Ich hatte einige seiner Bücher gelesen und fand sie radikal. Vanier glaubte, dass die Behinderten einen Ort für sich allein verdienten, dass sie oft getrennt von ihren Familien und Eltern leben wollten, wenn sie ein hinreichend unterstützendes Umfeld fanden. Das war eine Idee, die ich nachvollziehen konnte. Er bestand auch darauf, dass die Behinderten fähig waren, den Nicht-Behinderten mehr beizubringen, als diese ihnen je beibringen könnten. Wenn Vanier recht hatte, dann musste ich mich nicht so schlecht fühlen, weil ich zugelassen hatte, dass Walker sein Leben zumindest bis zu einem gewissen Grad für sich lebte. In mancher Hinsicht war ich hierher gekommen, um herausfinden, ob ich meinen Sohn hängen ließ. Ich packte meine Taschen aus und setzte mich an den Tisch in der kleinen Küchenecke meines Zimmers, um die Fragen durchzusehen, die ich Vanier an diesem Nachmittagstellen wollte. Ich hatte ein oder zwei Seiten mit Notizen vorbereitet, als es an der Tür klopfte. Ich öffnete sie, und da stand ein groß gewachsener Mann mit einem Bart, der einen roten Pullover trug. Er fragte, ob ich etwas Wasser wollte. Ich sagte ja, bat ihn herein und bot ihm einen Platz am Küchentisch an.
    Er war vierundsechzig Jahre alt, sah aber wie fünfzig aus. Er hieß Gary Webb, und auch wenn er nicht behindert war, wohnte auch er in Semence. Webb war der Direktor für spezielle Projekte bei L’Arche: Er war gerade von einer Reise mit fünfzehn L’Arche-Bewohnern nach Portugal zurückgekommen. Webb war in Vancouver aufgewachsen, aber hatte mit achtzehn seine Heimat verlassen. »Es war nicht meine Kultur«, sagte er nüchtern. Ich fragte ihn, wie es dazu gekommen war, dass er bei L’Arche arbeitete, aber das funktionierte nicht, weil er sich weigerte, das, was er tat, als Arbeit zu bezeichnen. »Es ist Leben. Sein. Die Arbeit ist nur ein Teil davon. Jeder, der hierherkommt, wird davon verwandelt. Die Beziehung ist unsere Priorität. Und dann teilen wir das den anderen einfach dadurch mit, dass wir sind, wie wir sind.« All das war interessant, frei, inspiriert und machte mich extrem nervös. Aber das war oft die Art, wie Gespräche mit Leuten bei L’Arche begannen. Sie schienen nicht unter der Schüchternheit zu leiden, die die meisten von uns haben: Ob behindert oder nicht, sie stürzten sich sogleich in einen Akt der »Beziehung« mit jedem, den sie trafen und wann immer sie ihn trafen. Ich fand ihren Enthusiasmus alarmierend. Waren sie etwa high? Hatten sie zu viel Güte getankt? Was zum Teufel lief da eigentlich ab, was hatten sie vor? Ich bewunderte ihre Offenheit, aber weil ich ein skeptischer Stadtmensch war, hatte ich keine Neigung, ihnen nachzueifern. Ich wusste ihre Großzügigkeit zu schätzen, aber als Produkt des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert bezweifelte ich ihre Ernsthaftigkeit. Wenn Walker je an so einem Ort lebte, würde er umgeben sein von Menschen, die für ihn um seiner selbst willen sorgten, oder von Leuten, die für ihn sorgten, weil sie in einer Art Kult lebten? Ich wollte nicht, dass Walker Teil eines Kults war.
    Webb war ausgebildeter Jesuit und hatte sieben Jahre in einem Trappisten-Kloster verbracht, als er eine Auszeit nahm, um sein Leben neu zu überdenken. Er hatte eine Menge Optionen. Er hatte Philosophie, Theologie und Psychologie an der Universität studiert, seine Eltern waren Künstler gewesen, und Webb selbst war Teilzeit-Bildhauer und manchmal auch Schauspieler. Er hatte sich strenge Regeln für seinen neuen Lebensweg auferlegt. Er musste sich in einer neuen Gemeinschaft entfalten, es musste verantwortungsvolle Arbeit sein, mit den Armen oder ihrem Äquivalent, es musste etwas Nicht-Ausschließendes sein, nichts, was den Rest des Lebens ausschloss (er wollte nicht wieder in einem Kloster weggeschlossen werden), es musste eine Verpflichtung auf lange Zeit sein, es musste etwas Ganzheitliches sein und, was am allerwichtigsten war, es musste in einer Gemeinschaft sein, die die »Spiritualität jedes Einzelnen« respektierte. Das erste Mal, dass er L’Arche besuchte, »bat ich darum, drei Tage bleiben zu können. Dann bat ich, drei Wochen bleiben zu können, dann drei Monate, dann ein Jahr.«
    Ich wollte gerade fragen, ob L’Arche jemals langweilig wurde, aber in dem Moment erklärte Webb, dass er nur

Weitere Kostenlose Bücher