Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
ich einen Brief von einem Mann namens Jean-Louis Munn: PR -Chef des kanadischen Zweigs von L’Arche, einer französischen Organisation, die eine Kette von hundertfünfunddreißig Häusern für geistig Behinderte betreibt, die sich von Toronto bis Kuwait erstreckt. Sie waren keine Option für Walker: Die Warteliste betrug zwanzig Jahre, und sie nahmen nur Erwachsene auf. Aber Munn wollte, dass ich ihn in Montreal besuchte. Dort, in einer früheren Kirche in Verdun, in einem Arbeiterviertel am südlichen Rand der Stadt, erblickte ich zum ersten Mal die Umrisse jener unvorstellbaren Gemeinschaft, nach der ich suchte. In jener Gemeinschaft war ich der Fremde.
Die Kirche war das Verwaltungszentrum des Verduner Zweigs von L’Arche. L’Arche war 1964 in Frankreich von Jean Vanier gegründet worden, dem Sohn von Georges Vanier, einem berühmten kanadischen Diplomaten. Jean Vanier, der sein Leben lang Philosophie und katholische Theologie studiert hatte, lebte immer noch im Dorf Trosly-Breuil, wo er an den meisten Tagen mit seinen behinderten Gefährten das Mittagessen einnahm.
In Montreal wurde gerade eine Messe im Keller der Kirche gefeiert, als ich eintraf. L’Arche war auf der Basis von katholischen Grundprinzipien gegründet worden (noch ein Grund, warum ich L’Arche als Alternative für Walker gemieden hatte, obwohl die Organisation seither ihre spirituelle Basis erweitert hatte). Dennoch: Die Messe im Kirchenkeller war anders als jede andere, die ich je zuvor erlebt hatte – sie ähnelte mehr so etwas wie einer Dorfversammlung, die in einer Kneipe bei einem lärmenden Essen stattfindet und bei der zwischendrin zur Unterhaltung die satirische Parodie einer Messe eingestreut wird.
Der Altar befand sich in einer Ecke, wo eine Treppe auf eine Wand traf, das Gegenstück zu einer Sakristei war eine Fläche, die schlicht durch Büro-Raumteiler abgetrennt war. Ein hoch gewachsener schwarzer Priester in weißen Gewändern und einem bunten Schal verteilte die Hostie in einer lockeren Annäherung an die Liturgie. Die Messe schien keinen strikten Anfang und kein Ende zu haben. Der Priester wechselte vom Englischen ins Französische und wieder zurück und sprach über Jesus und seine Gefolgschaft. Ab und zu stellte er eine Frage, und jemand rief ihm die Antwort zu.
»Warum sagen wir, dass Jesus ein Hirte ist?«, fragte der Priester.
»Jesus hat Leute, die ihm folgen, wie Schafe, richtig?« Das kam von einem etwa dreißigjährigen Mann, der in der hinteren Hälfte der Kirchengemeinde stand. Er trug ein schwarzes Hockeytrikot, auf dessen Rücken in roten Lettern Kanada stand. Darauf folgten noch mehrere Scherze über Schafe.
Einundzwanzig Menschen standen in der Ecke des Kirchenkellers, alles Erwachsene, und die meisten von ihnen augenscheinlich behindert. Drei drehten sich um, um mich zu mustern, als ich eintrat, zwei streckten sofort die Hand aus, um meine zu schütteln oder zu halten. Ich wusste nicht, was sie von mir erwarteten.
»Wo haben wir sonst noch diese Worte über Jesus, den Schafhirten, gehört?«, fragte der Priester.
»Tau-Tau-Taufe mit Jesus?«, stotterte jemand.
»Oh!«, sagte der Priester. Mehr Applaus, dann die Anerkennung jenes Applauses durch noch mehr Applaus.
Eine Band – zwei Gitarristen und ein Schlagzeuger – begann zu spielen, begleitet von einem beständigen Chor von Husten und Räuspern, um die Atemwege frei zu bekommen: Der Gottesdienst hätte genauso gut in einer Tuberkulosestation stattfinden können. Eine Frau vor mir – klein, gebeugt, in ihren Sechzigern, den Mund permanent geöffnet – betrachtete meinen Schlips und jauchzte laut. Ein anderer Mann kam zu mir nach hinten und sagte: »Ich bete für Sie.« Ich muss sagen, ich hatte das Gefühl, diese Hilfe könnte ich gut gebrauchen. »Wie heißen Sie?«, fügte er im Nachhinein auf Französisch hinzu. Wir erhoben uns für die Fürbitte, und die Schlips-Jauchzerin fasste hinter sich, um meine Hand zu ergreifen, sie wollte sie nicht mehr loslassen. Ich machte mir kurz Sorgen wegen Bakterien. Sie wollten Freunde sein.
Vor mir legte der Mann im Hockeytrikot (ich erfuhr später, dass er Ricky hieß) seinen Arm um Richard, einen älteren, kahleren Mann, der neben ihm stand. Richard trug einen schwarzen Pullover, ein kariertes Hemd und ein breites schwarzes Gummiband, um seine Brille auf der Nase zu halten. Ricky drückte seinen Kumpel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der ältere Mann seufzte und sagte: »Ohhh! Ich mag dich auch.«
In
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