Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Natalie eintraf. Sie war eine hoch gewachsene Frau in den Dreißigern mit einem Dreihundert-Watt-Lächeln und einem modischen Schal, den sie sich im Stil der Montrealer um den Hals geschlungen hatte. Natalie war die Heimleiterin, die Managerin: Sie hatte gerade Madelaine besucht, noch eine Bewohnerin des Hauses, die mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus lag.
Jimmy sprang auf, holte einen Stuhl für Natalie herbei und schob ihn ihr hin. Ich mag vielleicht schon in Häusern gewesen sein, in denen die Rückkehr von jemandem am Ende des Tages mit so viel Freude begrüßt wurde, aber nicht sehr oft. »Madelaine lässt alle herzlich grüßen, besonders Jimmy«, sagte Natalie auf Französisch.
Isabelle, die junge Frau im Rollstuhl, lächelte breit.
»Böses Mädchen, Daff«, sagte Jimmy und fügte erklärend für mich hinzu: »Das ist der Vorname von Daffy Duck.«
Dann hielten wir uns an den Händen und sprachen das Tischgebet und stürzten uns dann auf eine köstliche Bouillabaisse, auch wenn einige Bewohner ihre eigenen Spezialgerichte zu haben schienen.
Es waren noch drei weitere Gäste da – Alain, ein französischer Psychologe, der ein paar Monate in diesem Haus arbeitete, Katie, eine Assistentin aus Palästina, und Segolène, eine Nonne aus Paris, die in dem Haus arbeitete, während sie über ihre Zukunft nachdachte.
»Dies ist mein erstes Haus«, sagte Natalie. »Meine erste Familie.« Sie hatte als Lehrerin im normalen Schulsystem begonnen, aber für L’Arche zu arbeiten hatte sie verändert. Jetzt war sie schon seit elf Jahren dabei. »Das erste Mal, als ich mit behinderten Menschen gearbeitet habe, war auch das erste Mal, dass ich mich mit mir selbst im Reinen gefühlt habe«, sagte sie. Ich war überrascht, das aus ihrem Munde zu hören: Sie war eine attraktive, extrovertierte Frau, eloquent und selbstbewusst. »Ich war schüchtern. Aber unter ihnen war ich die Anführerin. Ich kam aus mir heraus.« Es gab einen religiösen Aspekt bei ihrer Arbeit, sie hatte das Gefühl, sie biete ihr die Chance, »Gott in meinem Leben zu erkennen. Und Gott im Leben der anderen. Und das auch zu benennen.« Aber Religion war etwas Persönliches, nichts, was sie anderen aufdrängte. »Die größte Herausforderung für mich ist, mit Leuten zusammen zu sein, die nicht behindert sind«, sagte sie. »Es fällt mir schwerer, sie zu akzeptieren. Mit Isabelle ist es leichter. In meinem Kopf denke ich, wenn Isabelle, Jimmy oder Madelaine irgendetwas seltsam erscheinen lassen, oh, dann liegt das nur daran, dass sie eine Behinderung haben. Aber diese Entschuldigung kann ich bei normalen Menschen nicht anbringen, die keine Behinderungen haben, wenn sie die Dinge seltsam erscheinen lassen.«
»Die Leute lassen die Dinge seltsam erscheinen? Du meinst, jemand wie er hier?«, sagte Jean-Louis und deutete mit dem Kopf auf Jimmy.
»An manchen Tagen ja, an manchen Tagen nein.« Es war ein Scherz. »Du weißt Jimmy, Jean-Louis kennt Isabelles Mutter.«
»Isabelle weiß das nicht«, antwortete Jimmy.
»Nein. Aber du weißt das.«
»Ja.«
»Mmm«, sagte Natalie.
Isabelle, unbeweglich am Tischende, leuchtete wie ein gütiger Stern und schaute zu. Sie konnte nur auf zwei Arten kommunizieren: Augen hoch gerollt für ja, und nach unten für nein. Manchmal tat sie das eine, wenn sie das andere meinte, nur um die Leute ein bisschen zu veräppeln. Es war einer der wenigen Witze, die sie machen konnte, aber sie machte ihn. Sie war an ihren Rollstuhl gefesselt, wie das Exemplar eines Schmetterlingssammlers, aber wie ein Schmetterling war sie nie plump. Segolène, die Nonne auf Besuch, erzählte mir, dass die Fürsorge für Isabelle, sich um sie zu kümmern, sie anzuziehen, sie zu baden und ihr Gesellschaft zu leisten, ihr zu verstehen gegeben hatte, wie sehr sie sie liebte. Eine konzentrierte, dunkelhaarige Frau Anfang dreißig, war Segolène eine Schwester des Jerusalem Ordens in Paris. Ihre Arbeit mit Isabelle bei L’Arche hatte dazu geführt, dass sie sich fragte, ob sie zu ihrem Orden zurückkehren sollte oder ob sie ihre Zeit auf Erden nicht besser nutzen könnte. »Manchmal wenn ich Isabelle sehe«, sagte sie, »möchte ich mich um Isabelle kümmern und Isabelle lieben. Und ich möchte es für Isabelle tun, weil es beinahe kontraproduktiv ist, es aus irgendeinem anderen Grund zu tun. Aber mein Glaube sagt, ich solle es für Christus tun. Und ich möchte nicht Isabelle hinter dem Antlitz von Christus lieben.« Isabelle hatte Segolènes
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