Der Junge mit dem Herz aus Holz
Himmel.
»Siehst du, da oben?«, sagte er. »Das ist der Große Wagen.«
»Wo?«, fragte ich und kniff die Augen zusammen.
»Da. Über dem Großen Wagen findet man den Polarstern im Norden. Siehst du ihn?«
»Ah, ja«, sagte ich begeistert, weil ich das nicht gewusst hatte. »Stimmt.«
»Und da ist Perseus«, fuhr der Prinz fort und deutete auf ein anderes Sternbild. »Und da drüben ist Kassiopeia, die sitzende Königin.«
»Du interessierst dich für Sterne?«, fragte ich ihn.
»Ja, sehr«, sagte der Prinz. »Ich möchte gern Astronom werden, wenn ich ehrlich bin, aber meine Eltern erlauben es nicht. Sie sagen, ich muss König sein.« Er schnitt eine Grimasse, wie wenn sie zu ihm gesagt hätten, er müsse früh ins Bett, weil sie am nächsten Morgen eine lange Reise vor sich hätten.
»Kannst du nicht einfach nein sagen?«, fragte ich.
»Unmöglich.« Er seufzte. »Wenn ich nicht König werde, dann geht die Krone an meinen jüngeren Bruder.«
»Und warum wäre das so schlimm?«, wollte ich wissen.
»Er ist ein Idiot«, sagte der Prinz. »Das würde nie klappen. Und nach ihm geht die Krone an einen anderen Zweig der Familie, und mit diesen Leuten reden wir nicht. Wir wären erledigt, die ganze Familie. Meine Mutter erlaubt das nie.«
»Deshalb haben sie dich also hierhergeschickt«, sagte ich. »Damit du hier in die Schule gehst, sozusagen.«
»Sozusagen.«
»Ich bin auch in die Schule geschickt worden«, erzählte ich ihm. »Es hat mir dort nicht besonders gefallen. Mit der Zeit wurde es besser, aber erst, als ich gemerkt habe, dass ich etwas gut kann. Und jetzt will ich lieber mal ins Schloss gehen und das Tagebuch deiner Mutter holen. Und die Flinte deines Vaters.«
Ein älterer Herr erwartete mich im Schloss. Er musterte mich mit einer Mischung aus Ärger und Angst, als wäre ich geschickt worden, um das Schloss auszurauben. »Und wer bist du?«, fragte er mich. Seine Stimme hallte durch die Flure.
Ich nannte meinen Namen und erklärte ihm, warum ich hier war. Das schien ihm einigermaßen einzuleuchten.
»Ich bin Romanus Plectorum, aus Rotterdam«, erwiderte er. »Ist der Prinz auch bei dir?«, fragte er dann und klang nicht gerade begeistert.
»Der Prinz ist draußen«, antwortete ich. »Er liegt auf dem Rasen. Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht besonders gern hier sind, wenn ich das mal so direkt sagen darf.«
»Stimmt genau«, sagte er. »Ich bin gegen meinen Willen an diesen fürchterlichen Ort bestellt worden, um den Jungen zu unterrichten. Dabei habe ich mir gerade in Rotterdam ein Schloss mit einem Glasdach gebaut, damit ich kein Geld mehr für Strom auszugeben brauche. So kann ich ein Vermögen sparen. In meinem Land gelte ich als einer der bedeutendsten Geizhälse unserer Zeit. Das ist eine große Ehre.«
»Aber was passiert, wenn es dunkel wird?«, fragte ich. »Dann können Sie doch gar nichts mehr sehen!«
»Kerzen, mein Junge, Kerzen! Ich habe sechs Jahre gebraucht, um mein Schloss zu bauen, und genau an dem Tag, als ich eingezogen bin, habe ich den Brief vom König und der Königin erhalten. Jetzt steht mein Schloss mit dem Glasdach leer. Wer weiß, was damit geschieht! Und ich sitze hier fest. Hier!«, jammerte er und blickte sich voller Selbstmitleid um. »Aber – sei’s drum. Komm mit mir. Ich zeige dir, wo das Studierzimmer der Königin ist.« Er führte mich mehrere dunkle, holzgetäfelte Korridore entlang.
Wir betraten ein riesiges Büro, und ich fand auch gleich das Tagebuch auf dem Schreibtisch der Königin. Aber erst als ich hochschaute, bemerkte ich die vielen Hirschköpfe, die aufgereiht an der Wand hingen, einer imposanter als der andere, und unter jedem befand sich ein Täfelchen mit einem Datum – der Tag, an dem der König sie geschossen hatte. Ich trat näher, um mir die Tiere anzuschauen. Ja, in ihren Augen konnte ich den Schmerz sehen, den sie empfunden hatten, als sie völlig unschuldig tot umfielen. Empört schüttelte ich den Kopf. Dann sah ich in der Ecke die riesige Flinte, die daran schuld war, dass so viele Lebewesen unnötig sterben mussten.
Abb. 7 Ein ausgestopfter HIRSCHKOPF , an der WAND befestigt
»Hier ist Ihr Tagebuch, Madam«, sagte ich am nächsten Tag zur Königin und überreichte ihr das gewünschte Tagebuch.
»Die Leute hatten recht mit dem, was sie über dich gesagt haben«, lobte sie mich. »Du bist wirklich sehr schnell. Und unser Sohn, der Prinz – wie geht es ihm? War sein Lehrer erfreut, als er ihn sah?«
»Ach ja –
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