Der Junge mit dem Herz aus Holz
sagen, stellte Noah das Bild wieder auf den Kamin, und als er den Blick hob, sah er sich selbst im Spiegel. Jedenfalls dachte er, es sei sein Spiegelbild. Aber nach einer Weile veränderte sich das Gesicht, es wurde erst ein bisschen länger, dann breiter, dann sah es noch besser aus als vorher, dann bekam es Bartstoppeln, als hätte er sich nicht rasiert, dann war der Bart wieder weg. Gleich darauf trug er eine Brille auf der Nase und sah richtig gut aus. Danach sah er nicht mehr so gut aus und hatte Falten auf der Stirn. Dann wurden seine Augen ein bisschen feuchter, und er hatte einen Schnurrbart, und seine Haare wurden dünner und verschwanden. Und schließlich lächelte das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, einen kurzen Moment, bevor es verschwamm und wieder von seinem normalen achtjährigen Gesicht ersetzt wurde, das ihn staunend anstarrte.
»Wie ungewöhnlich«, sagte Noah Barleywater.
»Was meinst du?«, fragte der alte Mann und schaute vom Tisch auf.
»Der Spiegel«, sagte Noah. »Zuerst war ich es, dann war ich es immer noch, aber ein bisschen älter, dann war es ein Mann, dann war es ein alter Mann. Ist das eine Art Spiel?«
»Nein, kein Spiel«, sagte der alte Mann und kam zu ihm, um ebenfalls in den Spiegel zu sehen, aber sein Gesicht veränderte sich überhaupt nicht. Er blieb ein alter Mann. »Hör auf damit, Charles«, sagte er zu dem Spiegel. »Du machst dem Jungen doch nur Angst.«
Als er sich wieder entfernte, versuchte Noah es noch einmal, weil er gern wissen wollte, was mit seinem Spiegelbild als Nächstes passieren würde, aber es passierte gar nichts mehr. Er sah einfach nur sein normales Gesicht, einfach nur Noah Barleywater, nichts Besonderes, nichts Schlimmes, nichts Weltbewegendes.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du weggelaufen bist«, sagte der alte Mann, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. »Haben dich deine Eltern schlecht behandelt?«
»Nein!«, rief Noah schnell, und sein Gesicht wurde feuerrot. »Nein, mit so was hat es nichts zu tun, dass ich weggelaufen bin.«
»Dann verstehe ich dich leider nicht«, sagte der alte Mann. »Als ich meinen Vater verlassen habe, hatte ich einen guten Grund: Ich wollte ein großer Läufer werden, und dann ist mir sozusagen die Zeit davongelaufen. Aber was ist mit dir? Du bist kein Läufer, oder?«
»Na ja, ich kann schon ganz gut laufen«, sagte Noah ein bisschen beleidigt. »Beim Schulsportfest letztes Jahr im Mai habe ich immerhin die Bronzemedaille über fünfhundert Meter gewonnen.«
»Die Bronzemedaille, sagst du?«, fragte der alte Mann. »Dritter Platz, heißt das?«
»Der dritte Platz ist gut!«, rief Noah. »Von dreißig Teilnehmern! Ein dritter Platz ist keine Schande.«
»Natürlich nicht«, sagte der alte Mann. »Ich bin nur nicht daran gewöhnt, das ist alles.«
»Hmmm.« Noah konnte sich nicht entscheiden, ob er dem alten Mann alles erzählen konnte oder ob er sich lieber still in eine Ecke setzen sollte und das Gesicht in den Händen vergraben. »Meine Eltern waren nie gemein zu mir«, sagte er und versuchte dabei, das quälende Gefühl zu unterdrücken, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitete und einen Ausweg suchte. »Es hat mir nicht gefallen, dass Sie das gerade gesagt haben.«
»Dann entschuldige ich mich in aller Form dafür«, sagte der alte Mann und setzte sich jetzt auf einen Hocker mit drei Beinen, der gerade noch rechtzeitig hinter ihm erschien, sonst wäre er direkt auf den Boden geplumpst. Er nahm wieder sein Messer in die Hand, um an seinem neuen Projekt weiterzuarbeiten.
»Ist schon okay.« Noah lächelte kurz, aber dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er und der alte Mann schauten sich eine Weile an, ihre Blicke verhakten sich ineinander, bis Noah sich abwandte und die Handwerkerkiste wieder zu sich her zog. Er griff hinein, um die nächste Puppe herauszuholen. Es war ein gutaussehender, etwas nervös wirkender junger Mann mit einer goldenen Krone auf dem Kopf.
Noah schaute seinen Gastgeber fragend an. »Wer ist das?«
»Ein Knabe, den ich früher gekannt habe«, sagte der alte Mann. »Ein Königssohn, ob du’s glaubst oder nicht. Aus einem anderen Land. Das ist natürlich schon lange her. Als ich noch ein Junge war.«
»Und Ihr Vater hat eine Puppe von ihm geschnitzt? Waren die beiden befreundet?«
»O nein.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, Poppa pflegte keinen Umgang mit solchen Leuten. Von dem Tag an, als er hierhergekommen ist, hat er das
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