Der Junge mit dem Herz aus Holz
auf ihn warteten. Aber dieses Jahr wollte er es anders machen. Immerhin war er jetzt ein Mann, und da wäre es albern, so schnell hinunterzurennen. Beim Gedanken daran, dass seine Mutter ihm immer ein ganz spezielles Geburtstagsfrühstück gemacht hatte, musste er lächeln. Die Erinnerung machte ihn nicht mehr traurig, im Gegenteil, das Lächeln auf seinem Gesicht wurde immer breiter. Wie glücklich seine ersten acht Lebensjahre gewesen waren – diese Jahre, die ganz entscheidend dazu beigetragen hatten, dass er der Mensch wurde, der er jetzt war.
Er hatte wirklich großes Glück gehabt, fand Noah. Manche Leute besaßen überhaupt keine schönen Erinnerungen. Er hatte acht Jahre mit seiner Mutter und achtzehn mit seinem Vater. Gar nicht so schlecht, wenn man es sich richtig überlegte.
Noah stand auf und ging zu seinem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers.
Komisch
, dachte er, als er sein Schnitzeisen da liegen sah, denn er war sich sicher, dass er es am Abend unten in der Werkstatt gelassen hatte.
Hat Papa es nachts raufgebracht?
In dem Moment klopfte es an der Tür, und sein Vater kam herein, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Es gab Geschenke von Tante Joan, Cousin Mark, Onkel Teddy. Und dann noch einen rätselhaften Umschlag.
»Von wem ist er?« Noah nahm den Umschlag und starrte gebannt darauf, wie auf eine Zeitbombe, die jeden Moment losgehen konnte.
»Keine Ahnung«, sagte sein Vater. »Er ist mit Eilboten gekommen, ganz früh schon. Mach ihn auf – dann weißt du es.«
Noah schob den Finger unter das Siegel und holte ein langes Schreiben heraus, das er schnell überflog. Seine Augen wurden immer größer, und er fing noch einmal von vorne an. Diesmal las er ganz genau.
»Was steht da?«, wollte sein Vater wissen, aber Noah schüttelte nur stumm den Kopf und gab ihm den Brief.
»Ich glaube, du musst es selbst lesen«, sagte er.
Am nächsten Tag holte Noah Barleywater die Schlüssel zu Pinocchios Spielzeugladen ab und machte sich auf den Weg zum Dorf. Sein Vater wollte ihn gern begleiten, doch Noah lehnte sein Angebot ab, nein, nicht heute, sagte er. Heute wollte er lieber allein hingehen. Es war zehn lange Jahre her, dass er den Laden das erste Mal betreten hatte. Es war ein komisches Gefühl, wenn er an den Tag dachte, an dem er als Kind in das Dorf gekommen war und den Holzschnitzer kennengelernt und überhaupt viele merkwürdige Dinge erlebt hatte. Dem alten Mann hatte Noah versprochen, wiederzukommen und ihn zu besuchen, aber kaum war er wieder zu Hause, hatten sich die Erinnerungen an diesen Tag in Luft aufgelöst und waren schließlich ganz verschwunden. Er hatte eigentlich nie mehr an diesen Tag gedacht, auch nicht, als er mit seinem Vater darüber redete, dass er gern mit Holz arbeiten würde. Er hatte im Untergeschoss einen Bereich eingerichtet, wo er sich selbst in Grundzügen die Geheimnisse des Hobelns und Fräsens, des Schnitzens und Schneidens, des Anmalens und Gestaltens beibrachte – die ganzen Techniken, die man beherrschen musste, wenn man Spielzeug herstellen wollte. Er war inzwischen sehr gut und verkaufte seine Sachen bei Frühlingsfesten und auf den verschiedenen Märkten in der Stadt.
Abb. 14 WERKZEUG , das man zum Holzschnitzen braucht
Erst als er am Morgen seines achtzehnten Geburtstags den Brief erhielt, in dem stand, dass er den gesamten Laden geerbt hatte, mit allem Drum und Dran, kamen die Erinnerungen zurück. Eine Klausel enthielt die Erbschaft allerdings: dass er den Laden wieder öffnen solle und nur Holzspielzeug und Marionetten verkaufen dürfe. Kein Plastik, kein Metall, nur Holz.
»Na, das kann ich!«, sagte er überglücklich. Er hatte sowieso vorgehabt, von Beruf Spielzeugmacher zu werden, und hier war der perfekte Ort, um diesen Traum zu verwirklichen.
Der Laden war abgeschlossen. Noah steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete behutsam die Tür. Er nahm sich vor, sie bald zu ölen, weil sie so quietschte. Er schaute nach oben: Die Glocke stieß zuerst einen tiefen Seufzer aus und bimmelte dann wie verrückt. Noah lächelte ihr zu und nahm sich vor, demnächst mal mit ihr über ihre Arbeitseinstellung zu reden. Dass im Inneren des Ladens der Fußboden und alle Tische und Regale mit Staub bedeckt waren, verwunderte ihn nicht weiter.
Na ja, ein gründlicher Frühjahrsputz und alles ist geregelt
, dachte er und fing an, die alten Spielsachen aus den Regalen zu holen und sie ordentlich im Hinterzimmer zu stapeln. So begann er, den
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