Der Junge mit dem Herz aus Holz
genau«, murmelte ich. Ich hätte gern ein bisschen mehr Zeit gehabt, um mir meine Version der Geschichte zurechtzulegen. Wenn man so schnell läuft, kann man einfach nicht lang genug nachdenken. »Ich glaube, die beiden verstehen sich gut. Allerdings haben sie befunden, dass Schottland doch nicht der richtige Ort für die Ausbildung des Prinzen ist.«
»Nicht der richtige Ort?«, schrie der König. »Aber die Schotten sind das zweitklügste Volk der Welt, gleich nach den Iren.«
»Das kann ja sein«, erwiderte ich. »Aber es ist schrecklich kalt dort, und Mr Plectorum sagte, er würde den Winter nicht überstehen, wodurch der Prinz in eine noch ungünstigere Lage käme als sowieso schon. Deshalb sind die beiden gemeinsam nach Rotterdam gegangen, um dort den Unterricht fortzusetzen. Der Prinz hat versprochen zu schreiben, sobald sie dort angekommen sind.«
Die Königin murrte ein bisschen, als sie diese Nachricht hörte, sagte aber nichts.
»Und meine Flinte?«, rief ungeduldig der König, der beim Gedanken an den Geruch von Schießpulver und Rehbraten in seinen Bart sabberte. »Du hast doch hoffentlich meine Flinte nicht vergessen, oder?«
»Ich habe sie nicht gefunden«, sagte ich und zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir leid.«
Ein lautes Knurren drang aus der Kehle des Königs, und er sah aus, als würde er sich gleich auf mich stürzen.
»Ich kann gern noch einmal hinlaufen, wenn Sie es unbedingt wünschen«, sagte ich nervös, obwohl ich genau wusste, dass ich auch dann die Flinte nicht mitbringen würde.
»Du liebe Güte, nein!« Die Königin schüttelte den Kopf, wodurch sich ihre Haube ein wenig lockerte. »Du hast schon genug getan. Und wir können auch nicht den ganzen Tag hier herumstehen. Der König muss seine Medikamente nehmen, und demnächst kommen die Touristen ans Schlosstor. Wir müssen noch das Brot in kleine Stückchen zerreißen, um sie zu füttern, sonst werden sie unruhig. Wie wär’s, wenn du einmal um den Palast herumlaufen würdest, und ich stoppe deine Zeit? Nur zum Spaß.« Sie holte eine Taschenuhr unter ihrem Umhang hervor und hielt den Finger an den einen runden Knopf oben. »Hinter dem Palast steht ein hübscher Lavendelbusch – er ist nicht zu übersehen. Bring mir bitte einen Zweig davon mit, damit ich weiß, du bist wirklich ganz herumgelaufen.«
»Gut so?«, fragte ich und hielt ihr einen perfekten violetten Blütenzweig hin.
»Erstaunlich«, sagte die Königin kopfschüttelnd.
Ich lächelte. »Was soll ich sagen? Ich bin eben sehr schnell.«
Ein paar Jahre später war ich zufällig in Rotterdam bei den Rotterdamer Jahrhundertwettkämpfen und besuchte den Prinzen. Wie sich herausstellte, war es eine gute Entscheidung gewesen. Angeleitet von seinem Lehrer hatte er viel gelernt, aber eben immer unter dem Glasdach des Schlosses, wo er die Möglichkeit hatte, die ganze Zeit zum Himmel hinaufzublicken. Und so waren alle glücklich und zufrieden.
Auch mein Poppa, als ich nach Hause kam.
»Du kommst einen Tag zu spät«, sagte er grinsend, schien aber insgesamt sehr erleichtert.
»Aber nur einen Tag«, sagte ich.
»Ja, und du bist zurückgekommen«, sagte er und schloss mich in die Arme. »Nur das zählt. Du hast dein Versprechen gehalten.«
Kapitel 14 Noah und der alte Mann
»Ein Junge aus meiner Klasse hat die Königin begrüßt«, sagte Noah und dachte an den Tag, an dem Charlie Charlton in Anzug und Krawatte und ausnahmsweise sogar mit ordentlich gekämmten Haaren in die Schule gekommen war. »Er hat ihr einen Strauß Blumen überreicht und gesagt: ›Wir freuen uns sehr, dass Sie diese Reise gemacht haben, Madam.‹ Das stand in der Lokalzeitung.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Andere Königin«, sagte er. »Der König und die Königin, mit denen ich zu tun hatte, sind schon lang nicht mehr da.«
Er nahm Noah die Prinzen-Marionette aus der Hand. Eine ganze Weile betrachtete er sie liebevoll und fuhr mit dem Finger über die fein geschnitzte königliche Ausstattung. Mit einem tiefen Seufzer gab er dann die Puppe dem Jungen zurück, der sie neben Mrs Shields und Mr Wickle legte.
»So wie’s klingt, hat Ihr Vater sich sehr gefreut, als Sie wieder bei ihm waren«, sagte Noah. »War er sehr einsam ohne Sie?«
»Ja, natürlich«, sagte der alte Mann. »Eltern fühlen sich immer einsam, wenn ihre Kinder weg sind, weißt du das nicht? Und er hatte ja auch nicht viele Freunde. Klar, da war der Esel, der uns gleich an unserem ersten Tag hier im Dorf
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