Der Junge mit dem Herz aus Holz
dass er ein so kolossal guter Läufer ist?«, fragte mich die Königin. Dabei hielt sie sich ihre Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug, vor die Augen und musterte mich von oben bis unten, als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob sie mit mir einverstanden war.
»Ja, Madam«, antwortete ich und nickte eifrig. »Ich kann schneller laufen als alle anderen Kinder in meinem Alter.«
»Ich bin der König«, verkündete der König. »Das ist unser Sohn, der Prinz. Er wird eines Tages König werden, versteht sich, aber erst, wenn ich tot bin. Er hofft, dass dieser Tag nie kommt – stimmt’s, mein Junge?«
»Was hast du gesagt, Vater?«, fragte der Prinz und schaute einen Moment lang nicht mehr hinauf zum Himmel, sondern zu seinem Vater.
»Ich habe gesagt, du hoffst, dass dieser Tag nie kommt«, wiederholte der König etwas lauter.
»Welcher Tag, Vater?«, fragte der Prinz, der nicht die geringste Ahnung hatte, worum es ging.
»Ach, Himmelherrg–«
Die Königin unterbrach ihn: »Unserem Sohn fehlt leider die Fähigkeit, sich zu konzentrieren«, sagte sie und schaute zu mir. »Er ist eine gewaltige Enttäuschung für uns. Deshalb wird der König mit ungewöhnlichen Mitteln am Leben gehalten. Der Prinz ist einfach noch nicht so weit, König zu werden.«
»Das stimmt«, sagte der Junge achselzuckend und schaute mich an. »Ich bin noch nicht so weit.«
»Hm – ich weiß nicht, was ich da tun kann«, sagte ich verwirrt. »Ich bin Läufer. Vielleicht verwechseln Sie mich mit jemandem?«
»Die Königin irrt sich nie«, bellte der König.
»Doch, einmal habe ich mich geirrt«, bellte die Königin zurück, warf ihrem Mann einen strengen Blick zu und wandte sich dann wieder an mich. »Ich weiß genau, wer du bist, Junge«, sagte sie und nahm sich zusammen. »Du bist der schnellste Läufer im ganzen Land. Meine Frage an dich lautet: Bist du auch stark?«
»Stark, Madam?«, fragte ich.
»Ja, genau. Meinst du, dass du auch laufen kannst, wenn du etwas auf dem Rücken trägst, das … ach, ich weiß nicht … sagen wir mal, etwas, das so schwer ist wie eine Maus?«
Ich musste lachen, hörte aber sofort wieder auf, als ich sah, was für ein wütendes Gesicht sie machte. »Ja, Madam«, sagte ich. »Ja, das kann ich bestimmt.«
»Oder so schwer wie eine Katze?«
»Kein Problem.«
»Wie ein Hund?«
»Cockerspaniel, kein Problem. Dänische Dogge – schon schwieriger. Da würde ich vielleicht doch etwas langsamer.«
Die Königin schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Sie atmete heftig durch die Nase aus, was mich an einen Drachen erinnerte. »Was wäre, wenn du einen Jungen auf dem Rücken hättest?«, fragte sie nach einer Weile.
»Einen Jungen, Madam?«
»Musst du eigentlich alles wiederholen, was ich sage?«, fragte sie und blitzte mich böse an. »Ja, einen Jungen. Du hast mich richtig verstanden. Könntest du laufen, wenn du einen Jungen auf dem Rücken trägst?«
Ich überlegte. »Ich wäre nicht so schnell wie sonst«, antwortete ich. »Aber ich wage zu behaupten, dass ich es könnte.«
»Gut«, sagte die Königin. »Also, dann mal los. Nimm den Königssohn auf den Rücken und laufe mit ihm nach Balmoral. Wir haben soeben einen der klügsten Männer in ganz Europa dorthin geholt, damit er unseren Sohn in der Kunst des Herrschens unterrichtet. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Der König ist nämlich schon halb tot.«
»Stimmt«, sagte der König traurig. »Eigentlich sollte ich gar nicht mehr hier sein.«
»Und der Junge muss bereit sein«, erklärte die Königin. »Auf geht’s! Hier wird nicht lang gefackelt.« Sie fuchtelte mit der Hand, und schon sprang mir der Prinz auf den Rücken. Als wir gerade losrennen wollten, fügte sie noch hinzu: »Und bring mir bitte mein schottisches Tagebuch mit. Ich habe es in den letzten Ferien dort liegenlassen und möchte gern etwas Neues eintragen.«
»Und meine Flinte«, knurrte der König, dessen Augenbrauen wie wild auf und ab gingen. »Im Park ist ein neuer Hirsch. Ein großartiges Exemplar, ein Geschöpf von ungewöhnlicher Schönheit. Den möchte ich schießen.«
Der Prinz war leichter, als ich erwartet hatte, und nachdem ich mich einmal an sein Gewicht gewöhnt hatte, merkte ich, dass mein Tempo dadurch kaum verlangsamt wurde. Ich erreichte Schottland am späten Abend, aber zu meiner großen Überraschung wollte der Prinz nach unserer Ankunft gar nicht ins Schloss gehen. Stattdessen legte er sich ins Gras und starrte hinauf in den
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