Der Junge mit dem Herz aus Holz
begrüßen, die jetzt über ihm schwebte, um ihm mitzuteilen, dass wieder eine Stunde vergangen war.
»Ich habe den Leuten, die am Waldrand leben, noch nie so ganz getraut«, bemerkte der Esel. »Sie kommen mir alle sehr unappetitlich vor. Ich war schon ein paarmal dort, nur um zu sehen, wie es da so ist, und mir ist aufgefallen, dass sie ganz ungewöhnliche Dinge tun. Ob du’s glaubst oder nicht – einmal habe ich eine junge Frau gesehen, die spazierte mit einem Labrador durch die Gegend, aber sie führte den Hund an einer Leine, als würde er ihr gehören oder was.«
»Ja, das sind wirklich seltsame Sitten«, stimmte ihm der alte Mann zu. »Aber im Grunde sind sie gar nicht so übel. Vergiss nicht – ich habe früher auch dort gelebt. Poppa und ich, wir hatten ein kleines Häuschen, und von meinem Zimmerfenster aus konnte ich sehen, wie sich der Wald vor mir ausdehnte. Das war alles gar nicht übel.«
»Ja, aber dann seid ihr hierhergekommen«, sagte der Dackel. »Ihr wart gescheit.«
»Das hat mein Vater entschieden, nicht ich«, erwiderte der alte Mann. »Aber ich bin sehr froh, dass er mit mir in dieses Dorf gezogen ist.«
»I-aaah! I-aaaah!«, rief der Esel, der sich richtig hineinsteigerte.
»Nein, nein«, sagte der alte Mann kopfschüttelnd. »Nein, da kann ich dir nicht zustimmen. Es wäre sicher anders gewesen. Aber ich hätte nirgendwo sonst leben wollen als hier. Das war genau das Richtige für mich, das Leben im Spielzeugladen. Ich bin glücklich hier.« An der Eingangstür blieb er stehen und schaute an dem kleinen, seltsam gebauten Haus hinauf, das sein Poppa mit so viel Liebe gebaut hatte, und er spürte, wie die quälende Reue sich wieder meldete.
Der Dackel drehte sich noch einmal um, bevor er davontrottete. »Denkst du, er kommt irgendwann zurück?«, fragte er. »Der Junge, meine ich. Kommt er wieder hierher, um uns zu besuchen?«
»Kann sein«, sagte der alte Mann mit einem Lächeln. »Er hat ja hierhergefunden – wer weiß, vielleicht findet er den Weg auch ein zweites Mal? Gute Nacht, Freunde. Wir sehen uns morgen wieder.«
Inzwischen war es fast Mitternacht, und nach dem anstrengenden Tag fühlte er sich ziemlich müde. Er hatte noch nie so lang Besuch gehabt, und davon war er jetzt ganz erschöpft. Aber für ihn gab es keinen Abend, an dem er nicht noch ein bisschen schnitzte, bevor er ins Bett ging. Also brach er einen Zweig von Poppas Baum ab – das war leicht für seine Hände, wie immer – und schloss die Tür hinter sich, ehe er hinunterging in seine Werkstatt. Dort setzte er sich hin, nahm Schnitzeisen und Hammer in die alten Hände und begann zu arbeiten, entfernte die Rinde und glättete das Holz, dann begann er mit einer neuen Figur.
Es dauerte nicht lang, bis das Holz die Gestalt eines Jungen annahm – doch das war ja am Anfang immer so. Erst später verwandelte sich sein Werk dann immer in etwas völlig anderes.
Trotzdem arbeitete der alte Mann weiter.
Was für eine dumme Marionette er doch gewesen war, dachte er, und Erinnerungen an sein früheres Leben gingen ihm durch den Sinn, während er schnitzte. Warum hatte er sich dafür entschieden, als Junge und dann als Mann zu leben, statt als Holzpuppe die wunderbaren Abenteuer zu erleben, die er bis in alle Ewigkeit hätte haben können? Wie viele Orte hätte er besuchen können, wie viele Freundschaften hätte er schließen können! Warum hatte er gedacht, es wäre besser, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein? Wie sollte man das begreifen? Tiefe Trauer überkam ihn, wie ein bleischweres Gewicht, aber er versuchte, diese Empfindungen zu unterdrücken, und arbeitete entschlossen weiter.
Wie ungewöhnlich!
, dachte er, als er sich dem Ende näherte.
Die Puppe kommt mir so bekannt vor. Aber jeden Moment wird sie sich verändern, oder?
Er legte das Schnitzeisen und seine Messer weg und hielt die Marionette hoch, um sie zu betrachten. Ein kleiner Junge, mit geraden Beinen und einem Gelenk in den Knien, ein glatter, zylindrischer Körper und zwei dünne Arme mit einfachen Händen dran. Ein lustiges, neugieriges Gesicht. Eine freche Nase. Und jetzt ein fröhliches Grinsen. Endlich hatte er es geschafft.
»Pinocchio«, sagte er.
Abb. 13 PINOCCHIO-MARIONETTE
Kapitel 26 Zehn Jahre später
Der Brief kam an seinem achtzehnten Geburtstag. Noah lag noch im Bett und dachte daran, wie er als kleines Kind an diesem Tag immer ganz früh aufgewacht und dann nach unten gerannt war, um zu sehen, was für Geschenke dort
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