Der junge Seewolf
Missionar aus Indien. In der großen Kapitänskajüte, deren Benutzung er für diesen Zweck von den MacMillans noch einmal erbeten hatte, speisten die Befreiten mit ihren Befreiern, den Leutnants Morsey und Bates sowie dem Kapitän.
Nachdem Mr. MacMillan in gesetzten Worten dem Kapitän und seinen Offizieren gedankt hatte, fragten die Befreiten während des Mahls nach der Vorgeschichte ihrer Befreiung. Von der Kaperung der Marie Hinrichs bis zur Erstürmung der Landbasis hörten sie die Geschichte aus der Sicht der Shannon und ihrer Mannschaft.
Während des Nachtisches tauschte man dann aus, was man über die Piraten wußte: Kapitän Brisbane berichtete von den Aussagen der drei Überläufer, die Befreiten erzählten von den Gerüchten im Gefangenenlager. Die beiden Schebecken standen nach diesen Informationen unter dem Befehl von Hadj Ali, dem Zweitältesten Sohn eines gefürchteten Piratenfürsten von der Barbareskenküste.
Er war zu stolz, künftig der zweite unter dem älteren Bruder zu sein, und erhielt vom Vater zwei Schebecken mit etwa 400 Piraten, um in der Nähe der Mündung des Gambia sein eigenes Reich zu errichten. Der Schiffsverkehr, der an dieser Küste zu den Sklavenzentren vorbeiführte, versprach reiche Beute. Die eigene Beteiligung am Sklavenhandel konnte den Ertrag nur mehren.
Der Piratenhaufen machte erst ein Jahr die Küste unsicher, hatte aber schon Angst und Schrecken verbreitet. Vier reichbeladene Schiffe konnten nach Tanger zum Verkauf geschickt werden. Für etwa vierzig Gefangene sollte Lösegeld gezahlt worden sein. Zwanzig weitere, für die niemand zahlen wollte, seien – je nach Gesundheitszustand – in die Sklaverei verkauft oder getötet worden.
Die Shannon hatte aus den Lösegeldzahlungen einen beträchtlichen Schatz erbeuten können, und der Kapitän war sicher, daß der Gerichtshof der Admiralität in Gibraltar der Besatzung eine Prämie zusprechen würde, bevor der Rest den Geschädigten zugestellt werde.
»Herr Kapitän«, griff Mr. MacMillan den Anknüpfungspunkt auf, »ich bin nicht ohne Einfluß in der Ehrenwerten Ostindischen Kompanie und selbst nicht unvermögend. Aus Dankbarkeit über die Rettung meiner Familie setze ich jedem Besatzungsmitglied der Shannon eine, jedem Deckoffizier zwei Guineen aus, und jeder der Herren bestallten Offiziere soll einen Ehrensäbel zur Erinnerung erhalten!«
»Überaus nobel!«
»Sehr generös!« untermalte das Gemurmel den Dank des Kapitäns. Früher – und auch nüchterner als sonst – löste sich die Gesellschaft auf. Der Tag war lang gewesen. Die Damen bedurften der Ruhe.
Die Gesellschaft im Cockpit war weniger harmonisch. Nach dem Abendessen gebot Mr. Morrison Ruhe: »Mr. Marsh hat Anklage gegen Mr. Winter erhoben. Er soll nach den Regeln unserer Kameradschaft bestraft werden, weil er einen älteren und ranghöheren Kameraden vor Zeugen beleidigt hat. Mr. Marsh, was haben Sie dazu noch zu sagen?«
Gilbert Marsh, nüchterner als sonst um diese Zeit, sah in die Runde und stieß mit mühsam beherrschtem Zorn hervor: »Der grüne Bengel hat mich am Abend unseres Sieges vor allen hier ein betrunkenes und gefühlloses Vieh genannt und mir das Weinglas aus der Hand geschlagen. Wäre er nicht Mitglied unserer Besatzung, und wäre das an Land geschehen, ich würde mit der Waffe Genugtuung fordern.«
Morrison sah zu David, der verschlossen vor sich hinstarrte. »Mr. Winter, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?«
Als David das Wort ›Verteidigung‹ hörte, loderte sein Starrsinn wieder auf. »Er war betrunken, Mr. Morrison, er war gefühllos. Während Richard Baffin mit dem Tode rang, hat Mr. Marsh gegrölt und geprahlt. Er haßt und demütigt mich, wo er kann. Ich konnte in diesem Augenblick nicht mit ihm trinken. Ich werde es nie tun können und in ihm nie ein Vorbild sehen, was ihr auch mit mir anstellen mögt.«
Mr. Morrison schüttelte den Kopf und sah mit leichtem Mitgefühl in Davids vor krampfhafter Entschlossenheit blasses Gesicht. Wußte der dumme Bengel nicht, daß die Demütigung um so größer sein würde, je stolzer er sich aufbäumte? Bei Captain's Servants wurden Gehorsam und Unterordnung höher geschätzt als Stolz.
»Mr. Winter«, sagte er, »im Dienste des Königs ist der Tod uns näher als anderen. Er kann uns im Sturm von Deck spülen, er kann uns durch die Hand des Feindes oder eine tückische Krankheit dahinraffen. Das Leben der anderen fordert sein Recht, und niemand kann ihnen vorschreiben,
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