Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
Vom Netzwerk:
ein Wasserreservoir kamen, beschlossen sie zu schwimmen. Als er merkte, daß sie nackt schwimmen wollten, versuchte er sich zurückzuziehen, aber sie wollten ihn nicht in Frieden lassen. Sie waren lustig und voller Scherze; sie wollten, daß er sich auszog und auch schwamm, aber er mochte nicht. Da sah er alle drei Penisse, den seines Vaters am deutlichsten, blaß und weiß. Er erinnert sich noch deutlich daran, wie widerwärtig es ihm war, daß er sie anschauen mußte.
      Seine Eltern schlafen in getrennten Betten. Sie haben nie ein Doppelbett gehabt. Das einzige Doppelbett, das er gesehen hat, ist auf der Farm, im Hauptschlafzimmer, wo der Großvater und die Großmutter zu schlafen pflegten. Er hält Doppelbetten für altmodisch, sie gehören zu der Zeit, als die Frauen jedes Jahr ein Kind gebaren, wie die Mutterschafe oder Sauen. Er ist dankbar, daß seine Eltern diese Angelegenheit hinter sich gebracht hatten, ehe er darüber Bescheid wußte.
      Er ist bereit zu glauben, daß vor langer Zeit, in West-Victoria, ehe er geboren wurde, seine Eltern sich liebten, da Liebe eine Voraussetzung fürs Heiraten zu sein scheint. Es gibt Fotos im Album, die das offenbar bezeugen: die beiden dicht beisammen beim Picknick, zum Beispiel. Doch das alles muß schon Vorjahren aufgehört haben, und er denkt, daß das auch besser für sie alle ist.
      Was nun ihn angeht, was hat das heftige und zornige Gefühl, das er für seine Mutter spürt, mit dem Geschmachte auf der Leinwand zu tun? Die Mutter liebt ihn, das gibt er zu; doch das ist ja das Problem, das ist es ja gerade, was falsch und nicht richtig ist, falsch an ihrer Haltung ihm gegenüber. Ihre Liebe zeigt sich vor allem in ihrer Wachsamkeit, ihrer Bereitschaft, hinzuzuspringen und ihn zu retten, sollte er je in Gefahr sein.
      Wenn er wollte (aber er würde das nie wollen), könnte er sich in ihrer Fürsorge ausruhen und für den Rest seines Lebens von ihr getragen werden. Weil er sich ihrer Fürsorge so sicher ist, nimmt er sich ihr gegenüber so in Acht, entspannt nie, gibt ihr nie eine Chance.
      Er sehnt sich danach, ihrer steten Aufmerksamkeit zu entgehen. Es kommt vielleicht die Zeit, wenn er, um das zu erreichen, sich durchsetzen und sie so brutal zurückstoßen muß, daß sie schockiert zurückweichen und ihn freigeben muß.
      Doch er braucht nur an diesen Augenblick zu denken, sich ihren überraschten Blick vorzustellen, ihr Verletztsein zu spüren, und er wird von Schuldgefühlen übermannt. Dann tut er alles, um den Schlag zu mildern – sie zu trösten, ihr zu versprechen, er wird nie weggehen.
      Da er ihr Verletztsein spürt, so genau, als sei er ein Teil von ihr und sie ein Teil von ihm, weiß er, daß er in der Falle sitzt und nicht heraus kann. Wer ist daran schuld? Er gibt ihr die Schuld, er ist wütend auf sie, doch er schämt sich auch wegen seiner Undankbarkeit. Liebe – das bedeutet Liebe wirklich, dieser Käfig, in dem er hin- und herläuft, hin und her, wie ein armer verstörter Pavian. Was versteht schon die törichte, unschuldige Tante Annie von der Liebe? Er weiß tausendmal mehr von der Welt als sie, die ihr Leben verschwendet hat, als sie sich mit dem verrückten Manuskript ihres Vaters abrackerte. Sein Herz ist alt, es ist finster und hart, ein Herz von Stein. Das ist sein verächtliches Geheimnis.

Fünfzehn
    Seine Mutter war ein Jahr auf der Universität, ehe sie den Platz für die jüngeren Brüder räumen mußte. Der Vater ist ausgebildeter Rechtsanwalt; er arbeitet nur deshalb für Standard Canners, weil die Eröffnung einer eigenen Praxis (wie die Mutter ihm sagt) mehr Geld kosten würde, als sie zur Verfügung haben. Obwohl er seinen Eltern Vorwürfe macht, weil sie ihn nicht wie ein normales Kind erzogen haben, ist er stolz auf ihre Bildung.
      Weil sie zu Hause Englisch sprechen, weil er immer der Klassenerste in Englisch ist, hält er sich für einen Engländer.
     Obwohl sein Nachname afrikaans ist, obwohl der Vater mehr Afrikaaner als Engländer ist, obwohl er selbst Afrikaans ohne englischen Akzent spricht, würde er keinen Augenblick als Afrikaaner durchgehen. Sein Afrikaans ist dünn und blutarm; echten Afrikaanerjungen steht eine ganze Welt von Jargonwörtern und Anspielungen zur Verfügung – wovon obszöne Wörter nur ein Teil sind –, zu der er keinen Zugang hat.
      Die Afrikaaner verbindet auch eine gemeinsame Art – sie sind verdrießlich, unversöhnlich und drohen immer gleich, handgreiflich zu werden (für

Weitere Kostenlose Bücher