Der Junge
Hand und mit dem Arm in einer Schlinge herum; dann trug er eine kleine schwarze Lederkappe über dem Fingerstumpf. Er war sechs Jahre alt. Obwohl keiner so tat, als würde der Finger wieder nachwachsen, beklagte er sich nicht.
Er hat sich nie bei seinem Bruder entschuldigt, und er ist auch nie gescholten worden für das, was er getan hat.
Trotzdem liegt die Erinnerung wie eine schwere Last auf ihm, die Erinnerung an den sanften Widerstand von Fleisch und Knochen und dann das Knirschen.
»Du kannst zumindest stolz darauf sein, jemanden in der Familie zu haben, der was mit seinem Leben angefangen hat, der etwas hinter sich gelassen hat«, sagt die Mutter.
»Du hast gesagt, daß er ein schrecklicher alter Mann gewesen ist. Du hast gesagt, daß er grausam gewesen ist.«
»Ja, aber er hat etwas mit seinem Leben angefangen.«
Auf der Fotografie in Tante Annies Schlafzimmer hat Balthazar du Biel grimmige, stechende Augen und einen schmalen, harten Mund. Seine Frau neben ihm wirkt müde und mürrisch. Balthazar du Biel lernte sie, die Tochter eines anderen Missionars, kennen, als er nach Südafrika kam, um die Heiden zu bekehren. Später nahm er sie und ihre drei Kinder mit nach Amerika, als er dorthin reiste, um das Evangelium zu verkünden. Auf einem Schaufelraddampfer auf dem Mississippi schenkte irgend jemand seiner Tochter Annie einen Apfel, den sie ihm zeigte. Er verabreichte ihr eine Tracht Prügel, weil sie mit einem Fremden gesprochen hatte. Das sind die wenigen Tatsachen, die er über Balthazar weiß, hinzu kommt der Inhalt des plumpen roten Buches, von dem es viel mehr Exemplare auf der Welt gibt, als die Welt haben will.
Balthazars drei Kinder sind Annie, Louisa – die Mutter seiner Mutter – und Albert, der auf den Fotos in Tante Annies Schlafzimmer als ängstlich blickender Junge im Matrosenanzug erscheint. Jetzt ist Albert Onkel Albert, ein krummer alter Mann mit schwammigem weißen Fleisch wie ein Pilz, der die ganze Zeit zittert und beim Gehen gestützt werden muß. Onkel Albert hat nie in seinem Leben ein richtiges Gehalt gehabt. Er hat sein Leben mit dem Schreiben von Büchern und Geschichten verbracht; seine Frau war diejenige, die arbeiten ging.
Er fragt seine Mutter nach den Büchern von Onkel Albert aus. Sie hat eins davon vor langer Zeit gelesen, kann sich aber nicht daran erinnern. »Sie sind sehr altmodisch. Die Leute lesen heute solche Bücher nicht mehr.«
Zwei Bücher von Onkel Albert findet er in der Abstellkammer, gedruckt auf dem gleichen dicken Papier wie Ewige Genesing,aber in braunem Einband, vom gleichen Braun wie die Bänke auf Bahnhöfen. Das eine heißt Kain, das andere Die Sondes van die vaders, Die Sünden der Väter.
»Kann ich die mitnehmen?« fragt er die Mutter. »Bestimmt«, sagt sie. »Keiner wird sie vermissen.«
Er versucht, Die Sondes van die vaders zu lesen, kommt aber nicht weiter als Seite zehn, es ist zu langweilig.
»Du mußt deine Mutter lieben und sie unterstützen.« Er grübelt über Tante Annies Belehrungen. Lieben – ein Wort, das er mit Widerwillen ausspricht. Sogar seine Mutter hat gelernt, nicht Ich liebe dich zu ihm zu sagen, obwohl sie ab und an beim Gutenachtsagen ein weiches mein Lieber einfließen läßt.
Für ihn hat die Liebe keinen Sinn. Wenn sich in Filmen Männer und Frauen küssen und Violinen leise und schmelzend im Hintergrund spielen, windet er sich auf seinem Sitz. Er schwört, daß er nie so sein wird: weich, schmachtend.
Er läßt sich nicht küssen, außer von den Schwestern seines Vaters, und für die macht er eine Ausnahme, weil sie es so gewohnt sind und es nicht anders verstehen. Das Küssen gehört zum Preis, den er dafür zahlt, auf die Farm zu kommen; eine schnelle Berührung ihrer Lippen, die zum Glück immer trocken sind, durch seine. In der Familie seiner Mutter küßt man sich nicht. Und auch Mutter und Vater hat er sich nicht richtig küssen sehen. Manchmal, wenn andere Leute da sind und sie aus irgendeinem Grund etwas vorspielen müssen, küßt der Vater die Mutter auf die Wange. Sie bietet ihm zögernd die Wange, ärgerlich, als zwinge man sie; sein Kuß ist leicht, schnell, nervös.
Nur einmal hat er den Penis seines Vaters gesehen. Das war 1945, als der Vater gerade aus dem Krieg gekommen war und die ganze Familie in Voelfontein versammelt war. Der Vater und zwei seiner Brüder gingen auf die Jagd und nahmen ihn mit. Es war ein heißer Tag; als sie an
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