Der Junge
Strecke bis zum Stadtzentrum zu radeln, wo es ordentliche Geschäfte mit Schaufenstern und Registrierkassen gibt, oder zum kleinen Afrikaans-Laden beim Eisenbahnübergang zu laufen, der nur aus einem Hinterzimmer in einem Wohnhaus besteht, der einen dunkelbraun gestrichenen Ladentisch und fast nichts in den Regalen hat. Er entscheidet sich für das Nächstgelegene.
Es ist ein heißer Nachmittag. Im Laden hängen biltong-Streifen von der Decke, und überall sind Fliegen. Gerade will er dem Jungen hinter dem Ladentisch – einem Afrikaaner, älter als er selbst – sagen, daß er zwanzig Springbok ohne Filter haben will, als ihm eine Fliege in den Mund gerät. Er spuckt sie voller Abscheu aus. Die Fliege liegt vor ihm auf dem Ladentisch und kämpft in einer Speichelpfütze.
»Sies!« sagt einer der Kunden.
Er will protestieren: »Was soll ich denn machen? Soll ich nicht ausspucken? Soll ich die Fliege runterschlucken? Ich bin bloß ein Kind!« Aber Erklärungen gelten nichts bei diesen gnadenlosen Leuten. Mit der Hand wischt er den Speichel vom Ladentisch und bezahlt für die Zigaretten, umgeben von mißbilligendem Schweigen.
Bei ihren Erinnerungen an die alten Tage auf der Farm kommen der Vater und seine Brüder wieder einmal auf ihren eigenen Vater zu sprechen. »‘n Ware ou jintlman !« sagen sie, ein richtiger alter Gentleman, ihre Formel für ihn wiederholend, und lachen: »Dis wat hy op sy grafsteen sou gewens het : Ein Farmer und ein Gentleman« – das hätte er gern auf seinem Grabstein gehabt. Am meisten lachen sie darüber, daß ihr Vater weiter Reitstiefel trug, wo doch alle anderen auf der Farm velskoen trugen.
Die Mutter, die ihnen zuhört, schnaubt zornig. »Vergeßt nicht, welche Angst ihr vor ihm hattet«, sagt sie. »Ihr habt euch nicht getraut, in seiner Gegenwart eine Zigarette anzuzünden, selbst als ihr erwachsene Männer wart.«
Sie sind verlegen, sie haben nichts darauf zu erwidern – sie hat deutlich einen wunden Punkt angesprochen.
Sein Großvater, der mit den Gentleman-Allüren, besaß einst nicht nur die Farm und zur Hälfte das Hotel und eine Gemischtwarenhandlung in Fraserburg Road, sondern noch ein Haus in Merweville mit einem Fahnenmast davor, an dem er zum Geburtstag des Königs den Union Jack hißte.
»‘n Ware ou jintlman en ‘n ware ou jingo !« sagen die Brüder noch – ein richtiger alter Hurrapatriot! Wieder lachen sie.
Die Mutter schätzt sie richtig ein. Sie hören sich an wie Kinder, die hinter dem Rücken des Vaters ungezogene Dinge sagen. Mit welchem Recht machen sie sich denn über ihren Vater lustig? Wenn er nicht gewesen wäre, würden sie überhaupt kein Englisch sprechen – sie wären wie ihre Nachbarn, die Botes und die Nigrinis, dumm und schwerfällig, ohne ein anderes Gesprächsthema als Schafe und das Wetter.
Wenigstens fliegen Scherze in einem Sprachmischmasch hin und her, und es wird gelacht, wenn die Familie zusammenkommt; während die Atmosphäre sofort ernst und schwer und trist wird, wenn die Nigrinis oder die Botes zu Besuch kommen. »jfa-nee«, sagen die Botes und seufzen. »Ja-nee«, sagen die Coetzees und hoffen inständig, daß ihre Gäste bald wieder verschwinden.
Und was ist mit ihm? Wenn der von ihm verehrte Großvater ein Hurrapatriot war, ist er selber auch einer? Kann ein Kind ein Hurrapatriot sein? Er steht gerade, wenn im Kino God Save the King gespielt wird und auf der Leinwand der Union Jack weht. Bei Dudelsackmusik läuft ihm ein Schauer über den Rücken, wie auch bei Wörtern wie stalwart (standhaft) und valorous (tapfer). Sollte er das geheimhalten, diese seine Sympathie für England?
Er kann nicht verstehen, warum so viele Menschen aus seiner Umgebung England hassen. England ist Dünkirchen und der Luftkampf um Großbritannien. England bedeutet, daß man seine Pflicht tut und sein Schicksal annimmt, still und ohne Aufsehen. England ist der Junge im Kampf um Jütland, der bei seinen Kanonen blieb, während das Deck unter ihm brannte.
England ist Sir Lancelot vom See und Richard Löwenherz und Robin Hood mit seinem Langbogen aus Eibenholz und seinem Lincoln-grünen Anzug. Was haben die Afrikaaner Vergleichbares? Dirkie Uys, der sein Pferd ritt, bis es tot umfiel. Piet Retief, der von Dingaan zum Narren gehalten wurde. Und dann die Voortrekkers, die Rache übten, indem sie Tausende Zulus niederschossen, die keine Gewehre hatten, und noch stolz darauf waren.
In Worcester gibt es
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