Der Junge
bei ihrer Einlieferung so lang und schwarz wie Vogelklauen waren.
Der Bruder, gelangweilt, hat angefangen zu quengeln. Er klagt über Durst. Die Mutter hält eine Schwester auf und überredet sie, ihm ein Glas Wasser zu holen. Er schaut verlegen weg.
Man schickt sie den Korridor hinunter zum Büro der Sozialarbeiterin. »Sind Sie die Verwandten?« fragt die Sozialarbeitern!. »Können Sie die Frau bei sich zu Hause aufnehmen?«
Die Mutter preßt die Lippen zusammen. Sie schüttelt den Kopf.
»Warum kann sie nicht in ihre Wohnung zurück?« fragt er die Mutter hinterher.
»Sie kann die Treppe nicht steigen. Sie kann nicht einkaufen gehen.«
»Ich will nicht, daß sie bei uns wohnt.«
»Sie wird nicht bei uns wohnen.«
Die Besuchszeit ist vorüber, Zeit Abschied zu nehmen. Tante Annies Augen füllen sich mit Tränen. Sie klammert sich so fest an den Arm der Mutter, daß ihre Finger mit Gewalt aufgebogen werden müssen. »Ek wil huistoe gaan, Vera«, flüstert sie – ich will nach Hause.
»Nur noch ein paar Tage, Tante Annie, bis du wieder laufen kannst«, sagt die Mutter so beschwichtigend sie kann.
Diese Seite von ihr hat er noch nie gesehen: diese Falschheit.
Dann ist er an der Reihe. Tante Annie streckt die Hand aus.
Tante Annie ist sowohl seine Großtante als auch seine Patin.
Es gibt im Fotoalbum ein Foto von ihr mit einem Baby auf dem Arm, das er sein soll. Sie trägt ein schwarzes knöchellanges Kleid und einen altmodischen schwarzen Hut; im Hintergrund ist eine Kirche zu sehen. Weil sie seine Patin ist, glaubt sie, eine besondere Beziehung zu ihm zu haben.
Offenbar entgeht ihr der Widerwille, den er für sie empfindet, wie sie da verrunzelt und häßlich in ihrem Krankenhausbett liegt, der Widerwille, den er für diese ganze Krankenstation voll häßlicher alter Frauen empfindet. Er versucht, diesen Widerwillen nicht zu zeigen; brennende Scham erfüllt sein Herz. Er erträgt die Hand auf seinem Arm, doch er will weg, fort von diesem Ort und nie zurück.
»Du bist so klug«, sagt Tante Annie mit der leisen, heiseren Stimme, die sie gehabt hat, solange er sich erinnern kann. »Du bist ein großer Mann, deine Mutter verläßt sich auf dich. Du mußt sie liebhaben und sie unterstützen, und deinen kleinen Bruder auch.«
Seine Mutter unterstützen? So ein Quatsch. Die Mutter ist wie ein Fels, wie eine steinerne Säule. Nicht er muß sie unterstützen, sie muß ihn unterstützen! Warum sagt Tante Annie überhaupt so etwas? Sie tut so, als läge sie im Sterben, dabei hat sie doch nur eine gebrochene Hüfte.
Er nickt, versucht ernsthaft und aufmerksam und folgsam auszusehen, während er heimlich bloß darauf wartet, daß sie ihn losläßt. Sie lächelt das bedeutungsvolle Lächeln, das ein Zeichen für die besondere Beziehung zwischen ihr und Veras Erstgeborenem sein soll, eine Beziehung, die er überhaupt nicht empfindet, nicht anerkennt. Ihre Augen sind matt, blaßblau, wäßrig. Sie ist achtzig und beinahe blind. Sogar mit Brille kann sie die Bibel nicht richtig lesen, kann sie nur auf dem Schoß halten und die Worte vor sich hin murmeln.
Sie lockert ihren Griff; er murmelt etwas und zieht sich zurück.
Jetzt ist der Bruder dran. Er läßt den Kuß über sich ergehen.
»Auf Wiedersehen, liebe Vera«, krächzt Tante Annie. »Mag die Here jou seen, jou en die kinders« – Gott segne dich und die Kinder.
Es ist um fünf und wird allmählich dunkel. In der ungewohnten Hektik des städtischen Berufsverkehrs nehmen sie einen Zug nach Rosebank. Sie werden die Nacht in Tante Annies Wohnung verbringen – diese Aussicht versetzt ihn in trübe Stimmung.
Tante Annie hat keinen Kühlschrank. In ihrer Speisekammer ist nichts zu finden außer ein paar verschrumpelten Äpfeln, einem schimmligen halben Laib Brot, einem Glas Fischpaste, der seine Mutter nicht traut. Sie schickt ihn zum indischen Laden; dort haben sie Brot und Marmelade und Tee zum Abendbrot.
Die Kloschüssel ist braun vor Schmutz. Ihm dreht sich der Magen um, wenn er sich die alte Frau mit den langen schwarzen Zehennägeln darauf hockend vorstellt. Er will das Klo nicht benutzen.
»Warum müssen wir hier bleiben?« fragt er. »Warum müssen wir hier bleiben?« echot sein Bruder. »Darum«, sagt die Mutter grimmig.
Tante Annie benutzt 40-Watt-Glühbirnen, um Strom zu sparen. In dem trüben gelben Licht des Schlafzimmers beginnt die Mutter, Tante Annies Sachen in
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