Der Junge
Jesus nicht sympathisch – er bekommt zu leicht Wutanfälle –, aber er ist bereit, ihn zu tolerieren. Wenigstens hat Jesus nicht behauptet, Gott zu sein, und ist gestorben, ehe er Vater werden konnte. Das ist Jesu Stärke; so behält Jesus seine Macht.
Doch es gibt einen Abschnitt im Lukas-Evangelium, den er nicht gern hört. Wenn sie dahin kommen, erstarrt er, verschließt die Ohren. Die Frauen kommen am Grab an, um Jesu Leichnam zu salben. Jesus ist nicht da. Statt dessen finden sie zwei Engel. »Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten?« fragen die Engel. »Er ist nicht hier; er ist auferstanden.« Er weiß, wenn er seine Ohren öffnen würde und die Worte zu sich dringen ließe, dann würde er auf seinen Stuhl klettern und einen Triumphschrei ausstoßen müssen. Er müßte sich für alle Zeiten lächerlich machen.
Er hat nicht das Gefühl, daß Mr. Whelan ihm persönlich übel will. Trotzdem ist die beste Punktzahl, die er je in Englischprüfungen bekommt, die 70. Mit 70 kann er nicht Erster in Englisch werden, bevorzugte Schüler schlagen ihn mit Leichtigkeit. Auch in Geschichte und Geographie, die ihn mehr denn je langweilen, ist er nicht besonders gut. Nur die guten Noten, die er in Mathematik und Latein erreicht, bringen ihn mit Müh und Not an die Spitze, vor Oliver Matter, dem Schweizer Jungen, der Klassenerster gewesen ist, ehe er kam.
Jetzt, da er in Oliver auf einen würdigen Gegner gestoßen ist, wird sein alter Schwur, immer ein Zeugnis als Klassenerster nach Hause zu bringen, zu einer Sache der eisernen persönlichen Ehre. Obwohl er seiner Mutter nichts davon erzählt, bereitet er sich auf den unerträglichen Tag vor, den Tag, an dem er ihr gestehen muß, daß er der Zweite ist.
Oliver Matter ist ein freundlicher, lächelnder, mondgesichtiger Junge, dem es bei weitem nicht so viel auszumachen scheint, der Zweite zu sein, wie ihm. Jeden Tag messen er und Oliver Matter sich im Wettkampf der schnellen Antworten, den Bruder Gabriel durchführt, indem er die Jungen in einer Reihe aufstellt, die er abschreitet und dabei Fragen stellt, die in fünf Sekunden beantwortet werden müssen, wobei jeder, der eine Antwort schuldig bleibt, ans Ende der Reihe geschickt wird. Wenn die Runde vorbei ist, stehen immer entweder er oder Oliver an der Spitze.
Dann kommt Oliver eines Tages nicht mehr zur Schule. Nach einem Monat ohne Erklärung gibt Bruder Gabriel etwas bekannt. Oliver ist im Krankenhaus, er hat Leukämie, alle müssen für ihn beten. Mit gesenkten Häuptern beten die Jungen. Da er nicht an Gott glaubt, betet er nicht, bewegt nur die Lippen. Er denkt: Alle werden glauben, ich möchte, daß Oliver stirbt, damit ich Erster sein kann.
Oliver kommt nie wieder. Er stirbt im Krankenhaus. Die katholischen Schüler nehmen an einer Sondermesse für den Frieden seiner Seele teil.
Die Bedrohung ist gewichen. Er atmet leichter; doch die alte Freude daran, Erster zu werden, ist verdorben.
Siebzehn
Das Leben in Kapstadt ist nicht so abwechslungsreich wie das Leben früher in Worcester. An den Wochenenden insbesondere gibt es nichts zu tun als den Reader’s Digest zu lesen, Radio zu hören oder einen Cricketball herumzuschlagen.
Mit dem Rad fährt er nicht mehr; in Plumstead gibt es nichts, wo man hinfahren könnte, nur meilenweit Häuser nach allen Seiten, und er ist sowieso zu groß für die Smiths, die allmählich wie ein Kinderrad wirkt.
Mit einem Rad in den Straßen herumzufahren erscheint ihm so nach und nach richtig lächerlich. Auch anderes, womit er sich früher intensiv beschäftigt hat, reizt ihn nicht mehr: der Bau von Meccano-Modellen, Briefmarkensammeln. Er weiß nicht mehr, warum er seine Zeit damit verschwendet hat.
Stunden verbringt er im Badezimmer damit, sich im Spiegel zu betrachten, und ihm gefällt nicht, was er sieht. Er hört auf zu lächeln und übt sich darin, ein mürrisches Gesicht zu machen.
Die einzige Leidenschaft, die nicht nachgelassen hat, ist die für Cricket. Er kennt keinen anderen, der so ein Cricketnarr ist wie er. Er spielt in der Schule Cricket, doch das reicht ihm nie.
Das Haus in Plumstead hat vorn eine Veranda mit Schieferboden. Dort spielt er allein, indem er das Schlagholz in der linken Hand hält, mit der rechten den Ball gegen die Wand wirft und ihn beim Zurückprall schlägt und sich dabei vorstellt, er sei auf einem Spielfeld. Stunde um Stunde schlägt er den Ball gegen die Wand. Die Nachbarn beschweren sich bei
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