Der Junge
aus dem Grammatiklehrbuch und schreiben jede Woche einen Aufsatz.
Sie bekommen dreißig Minuten, um ihren Aufsatz zu schreiben, bevor sie ihn abliefern müssen; in den verbleibenden zehn Minuten liest und zensiert Mr. Whelan alle Aufsätze, da er nichts davon hält, Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Seine zehnminütigen Benotungsverfahren sind zu einer Attraktion geworden, und die Jungen schauen mit bewunderndem Lächeln zu. Einen blauen Stift schreibbereit in der Hand, durchforstet Mr. Whelan den Stapel von Aufsätzen.
Wenn er am Ende seiner Vorstellung die Aufsatz-Hefte auf einen Stoß ausrichtet und sie dem Aufsichtsschüler zum Austeilen gibt, hört man kurz gedämpften, ironischen Beifall.
Mr. Whelans Vorname ist Terence. Er trägt eine braune Motorradlederjacke und einen Hut. Wenn es kalt ist, behält er den Hut auf, sogar drinnen. Er reibt die blassen weißen Hände aneinander, um sie zu erwärmen; er hat das blutleere Gesicht eines Leichnams. Was er in Südafrika macht, warum er nicht in Irland ist, weiß keiner. Das Land und alles, was hier geschieht, scheint ihm zu mißfallen.
Für Mr. Whelan schreibt er Aufsätze über den Charakter von Mark Anton, über den Charakter von Brutus, über Sicherheit im Straßenverkehr, über Sport, über die Natur. Die meisten seiner Aufsätze sind langweilige, mechanische Übungen; doch gelegentlich spürt er beim Schreiben eine plötzliche Erregung, und die Feder fliegt über die Seite. In einem seiner Aufsätze lauert ein Straßenräuber im Versteck an der Landstraße. Sein Pferd schnaubt leise, sein Atem dampft in der kalten Nachtluft.
Ein Mondstrahl fällt wie ein Säbelhieb über sein Gesicht; er hat die Pistole unter dem Mantelaufschlag, um das Pulver trocken zu halten.
Der Straßenräuber macht keinen Eindruck auf Mr. Whelan.
Seine blassen Augen eilen über die Seite, sein Stift stößt herab: 6 1/2. 6 1/2 ist die Zensur, die er fast immer für seine Aufsätze bekommt; nie mehr als 7. Schüler mit englischen Namen bekommen 7 1/2 oder 8. Trotz seines komischen Familiennamens bekommt ein Junge, der Theo Stavropoulos heißt, 8, weil er gut gekleidet ist und zur Sprecherziehung geht.
Tony wird immer die Rolle des Mark Anton zugeteilt, was bedeutet, daß er »Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an« lesen muß, die berühmteste Rede im Stück.
In Worcester ist er in einem Zustand der Besorgnis, doch auch der Erregung zur Schule gegangen. Ja, er konnte jederzeit als Lügner entlarvt werden, mit schrecklichen Konsequenzen.
Aber die Schule war faszinierend: jeder Tag schien neue Offenbarungen von Grausamkeit, Schmerz und Haß zu bringen, die hinter der banalen Oberfläche der Dinge wüteten.
Was da vor sich ging, war unrecht, wußte er, sollte eigentlich nicht geschehen; und er war zu jung, zu kindisch und verletzlich für das, was ihm zugemutet wurde. Trotzdem ergriff ihn die Leidenschaft und die Wut jener Tage; er war entsetzt, aber er wollte auch unbedingt mehr erleben, alles erleben, was es zu erleben gab.
In Kapstadt hat er dagegen bald das Gefühl, daß er seine Zeit verschwendet. Die Schule ist nicht mehr der Ort, wo große Gefühle zur Schau getragen werden. Es ist eine zusammengeschrumpfte kleine Welt, ein mehr oder weniger moderates Gefängnis, in dem er genausogut Körbe flechten als sich der Schulroutine unterwerfen könnte. Kapstadt macht ihn nicht klüger, sondern dümmer. Bei dieser Erkenntnis steigt Panik in ihm auf. Wer er auch wirklich ist, das wahre »Ich«, das sich aus der Asche seiner Kindheit erheben sollte, kann nicht geboren werden, wird unterdrückt und gehemmt.
Dieses Gefühl ist am deprimierendsten im Unterricht von Mr. Whelan. Es gibt viel mehr, was er schreiben kann, als Mr. Whelan je zulassen wird. Das Schreiben für Mr. Whelan bedeutet nicht, daß er seine Flügel ausprobiert; im Gegenteil, es ist, als wenn er in sich zusammenkriecht, sich so klein und harmlos macht, wie er nur kann.
Er hat nicht den Wunsch, über Sport ( mens sana in corpore sano ) oder Sicherheit im Straßenverkehr zu schreiben, diese Themen sind für ihn so langweilig, daß er sich die Worte abringen muß. Er möchte nicht einmal über Straßenräuber schreiben; er hat so ein Gefühl, daß die Mondstrahlen, die auf ihre Gesichter fallen, und die weißen Knöchel der Hände, mit denen sie ihre Pistolenknäufe umklammern, sie mögen einen noch so großen Eindruck machen, nicht von ihm stammen, von irgendwo anders
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