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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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Vater, für einen studierten Juristen wie ihn.
      Wolf Heller unterliegt also nicht der generellen Kritik an den Juden. Wolf Heller kümmert sich um seine Angestellten. Zu Weihnachten macht er ihnen sogar Geschenke, obwohl Weihnachten den Juden nichts bedeutet.
      Es gehen keine Heller-Kinder in die Schule von Worcester. Wenn es überhaupt Heller-Kinder gibt, dann hat man sie vermutlich nach Kapstadt in die SACS geschickt, eine jüdische Schule in jeder Beziehung, nur nicht dem Namen nach. Es gibt auch keine jüdischen Familien in Reunion Park. Die Juden von Worcester wohnen im älteren, grüneren, schattigeren Stadtteil. Obwohl es jüdische Schüler in seiner Klasse gibt, wird er nie von ihnen nach Hause eingeladen. Er sieht sie nur in der Schule, rückt ihnen in der Zeit der Morgenandacht näher, wenn Juden und Katholiken isoliert und der Wut der evangelischen Christen ausgesetzt sind.
      Doch hin und wieder wird die Befreiung von der Morgenandacht aus unklaren Gründen aufgehoben, und sie werden in die Aula befohlen.
      Die Aula ist immer brechend voll. Ältere Schüler sitzen auf den Stühlen, während sich die Jungen aus den kleinen Klassen auf dem Fußboden zusammendrängen. Die Juden und Katholiken – vielleicht zwanzig insgesamt – bahnen sich zwischen ihnen den Weg, suchen einen Platz. Heimlich greifen Hände nach ihren Knöcheln und versuchen, sie zu Fall zu bringen.
      Der Dominee ist schon auf dem Podium, ein blasser junger Mann im schwarzen Anzug und mit weißem Schlips. Er predigt mit hoher, eintöniger Stimme, die langen Vokale dehnt er, und seine Aussprache ist überdeutlich. Wenn die Predigt vorbei ist, müssen sie sich zum Gebet erheben. Wie verhält sich ein Katholik richtig während eines evangelischen Gebets? Schließt er die Augen und bewegt die Lippen, oder tut er so, als wäre er gar nicht da? Er kann keinen von den echten Katholiken sehen; er blickt ausdruckslos und läßt die Augen schielen.
      Der Dominee setzt sich. Die Gesangbücher werden ausgeteilt; jetzt ist Gesang an der Reihe. Eine der Lehrerinnen tritt vor, um zu dirigieren. »Al die veld is vrolik, al die voeltjies sing«, singen die kleinen Schüler. Dann erheben sich die älteren Schüler. »Uit die blou van onse hemel«, singen sie mit ihren tiefen Stimmen, stramm stehend, den Blick geradeaus: die Nationalhymne, ihre Nationalhymne. Vorsichtig, ängstlich, fallen die Jüngeren ein. Über sie gebeugt, mit den Armen wedelnd, als schaufle sie Federn, versucht die Lehrerin sie aufzurichten, zu ermuntern. »Ons sal antwoord op jou roepstem, ons sal offer wat jy vra«, singen sie: Wir werden deinem Ruf folgen.
      Endlich ist es vorbei. Die Lehrer steigen vom Podium, zuerst der Direktor, dann der Dominee, dann alle übrigen. Die Jungen verlassen nacheinander die Aula. Eine Faust stößt ihn in die Nieren, ein kurzer, schneller Schlag, keiner sieht es. »Jood!« flüstert eine Stimme. Dann ist er draußen, er ist frei, er kann wieder frische Luft atmen.
      Trotz der Drohungen der echten Katholiken, trotz der über ihm schwebenden Möglichkeit, daß der Priester seine Eltern besucht und ihn entlarvt, ist er dankbar für die Inspiration, die ihn Rom wählen ließ. Er ist der Kirche dankbar, die ihm Unterschlupf gewährt; er bedauert nichts, wünscht sich nicht, kein Katholik mehr zu sein. Wenn Christ sein bedeutet, Kirchenlieder zu singen und Predigten anzuhören und danach herauszukommen und Juden zu quälen, dann hat er kein Verlangen, Christ zu sein. Es ist nicht seine Schuld, wenn die Katholiken von Worcester katholisch sind, ohne römisch zu sein, wenn sie nichts von Horatius und seinen Kameraden wissen, die die Brücke über den Tiber verteidigen (»Tiber, Vater Tiber, zu dem wir Römer beten«), nichts von Leonidas und seinen Spartanern, die den Paß bei Thermopylae verteidigen, von Roland, der den Paß gegen die Sarazenen verteidigt. Nichts Heroischeres kann er sich ausmalen, als einen Paß zu verteidigen, nichts Edleres, als sein Leben für andere zu opfern, die später über dem Leichnam weinen werden. So würde er gern sein: ein Held. Damit sollte der wahre römisch-katholische Glauben zu tun haben.
      Es ist ein Sommerabend, kühl nach dem langen, heißen Tag.
      Er ist im Park, wo er mit Greenberg und Goldstein Cricket gespielt hat: Greenberg, der ein solider Schüler ist, aber kein guter Cricketspieler; Goldstein, der große braune Augen hat und Sandalen trägt und ziemlich flott ist. Es ist spät, halb acht ist

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