Der Junge
zurück. Wenn er jetzt sagt: »Ich habe mich geirrt, ich bin in Wirklichkeit evangelisch«, ist er blamiert. Und außerdem, auch wenn er die höhnischen Bemerkungen der Afrikaaner und die Verhöre der echten Katholiken ertragen muß, sind die zwei Freistunden pro Woche es nicht wert, freie Zeit, in der er auf den leeren Sportplätzen herumwandern und sich mit den Juden unterhalten kann?
An einem Samstagnachmittag, als ganz Worcester, von der Hitze betäubt, eingeschlafen ist, holt er sein Fahrrad hervor und fährt zur Dorp Street.
Für gewöhnlich macht er einen weiten Bogen um die Dorp Street, weil dort die katholische Kirche ist. Doch heute ist die Straße leer, kein Laut ist zu hören außer dem leisen Rauschen des Wassers in den Rinnen. Er fährt gleichgültig vorüber und tut so, als sehe er gar nicht hin.
Die Kirche ist nicht so groß, wie er sie sich vorgestellt hat. Sie ist ein niedriges, kahles Gebäude mit einer kleinen Statue über dem Säulenvorbau: die Jungfrau, mit verhülltem Haupt und Kind auf dem Arm.
Er kommt am Ende der Straße an. Er würde gern umdrehen und einen zweiten Blick riskieren, doch er hat Angst, daß er sein Glück überstrapaziert, daß ein Priester in Schwarz auftaucht und ihm Halt gebietet.
Die katholischen Schüler setzen ihm zu und machen höhnische Bemerkungen, die evangelischen Christen verfolgen ihn, aber die Juden fällen kein Urteil. Die Juden tun so, als würden sie nichts bemerken. Auch die Juden tragen Schuhe. Bei den Juden fühlt er sich fast ein bißchen wohl. Die Juden sind ganz in Ordnung.
Trotzdem muß man sich bei den Juden vorsehen. Denn die Juden sind überall, die Juden erobern das Land. Er hört das überall, doch besonders von seinen Onkeln, den zwei unverheirateten Brüdern seiner Mutter, wenn sie zu Besuch sind. Norman und Lance kommen jeden Sommer, wie Zugvögel, wenn auch selten zur gleichen Zeit. Sie schlafen auf dem Sofa, stehen um elf Uhr vormittags auf, wandern stundenlang im Haus herum, halb angezogen, zerzaust. Beide haben Autos; manchmal können sie zu einer Spritztour mit dem Auto überredet werden, doch sie scheinen ihre Zeit lieber mit Rauchen, Teetrinken und Gesprächen über die alten Tage zuzubringen. Dann essen sie zu Mittag, und nach dem Essen spielen sie bis Mitternacht mit jedem, den sie zum Aufbleiben überreden können, Poker oder Rommé.
Gern hört er zu, wenn die Mutter und die Onkel zum tausendsten Mal die Ereignisse aus ihrer Kindheit auf der Farm durchgehen. Nie ist er glücklicher, als wenn er diesen Geschichten lauscht, dem Necken und Gelächter, das sie begleitet. Seine Freunde stammen nicht aus Familien mit solchen Geschichten. Das hebt ihn heraus: die beiden Farmen im Hintergrund, die Farm der Mutter, die Farm des Vaters und die Geschichten von diesen Farmen. Durch die Farmen hat er Wurzeln in der Vergangenheit; durch die Farmen hat er Substanz.
Es gibt noch eine dritte Farm: Skipperskloof, bei Williston. Die Familie hat dort keine Wurzeln, es ist eine Farm, in die eingeheiratet wurde. Trotzdem ist auch Skipperskloof wichtig. Alle Farmen sind wichtig. Farmen sind Orte der Freiheit, des Lebens.
Durch die Geschichten, die Norman und Lance und die Mutter erzählen, huschen jüdische Gestalten, komisch, schlau, aber auch verschlagen und herzlos, wie Schakale. Juden aus Oudtshoorn besuchten jedes Jahr die Farm, um von ihrem Vater, seinem Großvater, Straußenfedern zu kaufen. Sie überredeten ihn, die Wollschafe aufzugeben und nur Strauße zu züchten. Strauße würden ihn reich machen, sagten sie. Dann brach eines Tages der Markt für Straußenfedern zusammen. Die Juden wollten keine Federn mehr kaufen, und der Großvater machte Bankrott. Alle in der Gegend gingen bankrott, und die Juden übernahmen ihre Farmen. So operieren die Juden, sagt Norman: Einem Juden darf man niemals trauen.
Sein Vater erhebt Einwände. Der Vater kann es sich nicht leisten, die Juden herunterzumachen, da sein Arbeitgeber Jude ist. Standard Canners, wo er als Buchhalter arbeitet, gehört Wolf Heller. Tatsächlich ist es Wolf Heller gewesen, der ihn von Kapstadt nach Worcester gebracht hat, als er seine Arbeit im öffentlichen Dienst verloren hat. Die Zukunft ihrer Familie ist an die Zukunft von Standard Canners gebunden, die Wolf Heller, in den wenigen Jahren seit der Übernahme des Betriebes durch ihn, zu einem Giganten der Konservenindustriewelt gemacht hat. Standard Canners hat großartige Perspektiven, sagt der
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